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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

125. 126. Aufstellung von Einzelsystemen. 49


Rangordnung für die einzelnen Eintheilungsprincipien ausfindig zu machen. Am ehesten lässt sich noch für eine einzelne sprachliche Einheit (Mundart oder Sprache) ein bestimmtes System, d.h. eine bestimmte Anordnung der einzelnen Eintheilungsprincipien aufstellen. Aber ein Princip, das für die Gliederung der einen Sprache von höchster Bedeutung ist, tritt oft genug in einer andern ganz zurück, würde also für diese erst an einer andern Stelle des Systems zu berücksichtigen sein.

125. Ich meine also, wenn auch im ausdrücklichen Gegensatze zu den den grössten Theil der phonetischen Literatur beherrschenden Tendenzen, durchaus an der Meinung festhalten zu müssen, dass das Streben nach einem allgemeinen Lautsystem nutzlos sei, zumal für die historische Phonetik. Der Sprachhistoriker bedarf (wie übrigens auch der Praktiker) zunächst einer genauen Erforschung und Charakterisirung der Einzelsysteme derjenigen Idiome, welche den Gegenstand seiner sprachgeschichtlichen Untersuchung bilden. Für die historische Verknüpfung der Einzelsysteme verwandter Idiome, die sich aus gemeinschaftlicher Grundlage entwickelt haben, braucht er sodann eine klare Uebersicht über die einzelnen natürlichen Gruppen, in welche die Laute einer Sprache zerfallen, je nachdem man ihre Gesammtheit von dem einen oder andern Gesichtspunkt aus betrachtet. Er wird es beispielsweise einmal mit der Geschichte aller Verschlusslaute im (regensatz zu den mit offenem Munde gebildeten zu thun haben, ein anderes Mal mit der Geschichte der reinen Stimmlaute im Gegensatz zu den Lauten, die ganz oder theilweise auf Geräuschbildung beruhen, oder mit der Geschichte der Labiale, Dentale, Palatale, Velare, oder der Nasallaute im Gegensatz zu den nichtnasalirten Lauten, u.s.w. Dabei wird er vielfach dieselben Laute verschiedenen Gruppen zutheilen müssen: ein m beispielsweise bald als reinen Stimmlaut, bald als Labial, bald als Nasal, bald als Halbverschlusslaut betrachten müssen. Alle diese Betrachtungsweisen sind für ihn gleich wichtig, und mit der Wahl des Standpunkts wechselt auch die Gestalt des Systems in entsprechender Weise.

126. Derartige Verschiedenheiten der Betrachtung machen sich insbesondere auch bei der Classificirung der verschiedenen Varietäten eines ‘Lautes’ im weiteren Sinne geltend. Für die Entscheidung der Frage, welche von diesen Varietäten im einzelnen Falle als die normale zu betrachten sei — einer Frage, die ja vom absoluten Standpunkt aus überhaupt nicht zu beantworten ist — haben bei der speciellen Aufgabe des

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/69&oldid=- (Version vom 23.5.2022)