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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

48 124. Unthunlichkeit eines allgemeinen Systems.


‘stimmloses b’ oder als ein ‘schwächeres p’ bezeichnen? oder mit anderen Worten, wenn die alten Ausdrücke Media und Tenuis beibehalten werden sollen, welche ursprünglich den stimmhaften und schwachen bez. den stimmlosen und starken Laut bezeichnen sollten, welcher von ihnen muss denn die Erweiterung seines Begriffes erfahren ? Es ist doch sehr natürlich, dass derjenige, welcher sein b stimmhaft spricht, in diesem Mittönen der Stimme das eigentliche Charakteristicum des Lautes findet, daher auch geneigt sein wird, jenen schwachen, stimmlosen Laut dem p näher zu stellen, während umgekehrt derjenige, welcher ein ‘stimmloses b’ zu bilden und nur durch den Explosionsdruck vom p zu unterscheiden gewöhnt ist, ein feineres Ohr für alle Unterschiede der Druckstärke haben und also in der Abstufung der Stärke das Wesentliche erblicken wird (vgl. jedoch hierzu 367 ff.). Ihm rangirt dann das Mittönen der Stimme bei Ändern, wenn er es überhaupt beachtet, erst in zweiter Linie. Der strenge Systematiker wird vielleicht sagen, dass solche subjective Bedenken oder Auffassungen nicht in Betracht kommen dürfen, wo es die Aufstellung eines abstracten Systems gilt. Aber es bedarf doch auch wieder nur eines geringen Nachdenkens, um zu erkennen, dass dies subjective Empfinden gewisser charakteristischer Eigenheiten gewisser Laute im Vorzug vor anderen Eigenheiten derselben Laute für die geschichtliche Entwicklung derselben, mithin auch für die geschichtliche Entwicklung einer ganzen Sprache von bedeutendem Einfluss sein kann. Für denjenigen, welcher die Phonetik zu sprachgeschichtlichen Untersuchungen benutzen will, ergibt sich geradezu die Nothwendigkeit, auch auf diese subjectiven Momente in der Auffassung der Laute durch die Sprechenden Rücksicht zu nehmen, selbst auf die Gefahr hin, sein abstractes System dadurch zu stören.

124. Aus solchen und ähnlichen Erwägungen ergibt sich, dass ein allgemeines System für die Eintheilung der Sprachlaute, das namentlich auch für die Bedürfnisse des Sprachhistorikers überall ausreichte, nicht aufgestellt werden kann. Mehr nebensächlich ist dabei die Schwierigkeit, dass Niemand von vorn herein alle überhaupt möglichen Combinationen der einzelnen Articulationsformen überschauen kann. Das ‘allgemeine System’ wäre, was diesen Punkt anlangt, einfach von Zeit zu Zeit zu modificiren, je nachdem neues Beobachtungsmaterial neue Combinationen aufweist. Vor allem aber ist es, wie bemerkt, unmöglich, eine allgemein gültige

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/68&oldid=- (Version vom 23.5.2022)