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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

123. Verschiedene Ausgangspunkte der Lautanalyse. 47


Articulationsstellung nach verwandt durch den gemeinschaftlichen Verschluss der Lippen. Ja man kann das m ebenso gut als ein nasalirtes stimmhaftes b bezeichnen wie man von einem nasalirten Vocal spricht, denn m unterscheidet sich von b eben wie der nasalirte Vocal vom reinen Vocal nur dadurch, dass bei dem erstern das Gaumensegel frei im Munde schwebt, der Luft Eingang in Mund- und Nasenraum verstattend, bei letzterem aber der Rachenwand fest anliegt. Müsste man danach die Nasale als selbständige Olasse nicht ganz aus dem System der Sprachlaute eliminiren und sie vielmehr als Unterabtheilung der Mediae fassen, wie man die Nasalvocale als Varietät der reinen Vocale darzustellen pflegt? Wir haben aber weiter oben beim b die Acte des Verschlusses und der Oeffnung ignorirt, die im Zusammenhang der Rede das Ertönen der Stimme begleiten und die dergestalt charakteristische Schälle erzeugen, dass sie, namentlich bei schwach tönender Stimme, als das Wesentlichere empfunden und demgemäss auch von der Theorie angesehen werden können. Dadurch tritt das b, das wir eben als nahen Verwandten der ‘Stimmlaute’ a und m kennen gelernt hatten, in nächste Beziehung zu dem stimmlosen p, das doch sonst als vollkommenster Gegensatz zum Vocallaut aufgefasst werden muss. Wollen wir nun b und p vergleichen, was ist denn da das Wichtigere: die Verschlussbildung und Oeffnung, oder das Tönen und Nichttönen der Stimme? Und wenn wir uns etwa aus diesem oder jenem Grunde entschliessen, b und p in erster Linie als Verschlusslaute zu charakterisiren, gehört dann das m, bei dessen Bildung die Lippen geschlossen, ein Canal aber, der Nasencanal, geöffnet ist, zu diesen Verschlusslauten, welche beide Luftwege (durch Mund und Nase) absperren, oder zu den Vocalen, welche auch einen Luftweg offen lassen, nämlich den durch den Mund, während der Nasencanal abgesperrt wird? Unterscheiden sich ferner b als ‘stimmhafter’ und p als ‘stimmloser’ Verschlusslaut lediglich durch die Betheiligung oder Nichtbetheiligung der Stimme an der Hervorbringung dieser Laute? Eine einfache Messung des Exspirationsdrucks mit dem oben 61 erwähnten Instrument zeigt sofort, dass b nicht nur stimmhaft ist, sondern auch einen geringeren Munddruck (60) bez. Explosionsdruck besitzt. Wenn nun in einer ganzen Reihe von Sprachen an die Stelle des ‘stimmhaften’ b ein Laut getreten ist, welcher zwar nicht selbst stimmhaft, aber vom p doch durch schwächeren Explosionsdruck deutlich geschieden ist (359), soll man denselben nun als ein

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/67&oldid=- (Version vom 23.5.2022)