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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

121. 122. Was sind Einzellaute? 45


gegensätzlicher Verwendung als eine Handhabe dar. Ein Beispiel mag erläutern, wie auch hier allgemeingültige Bestimmungen nicht zu machen sind. Niemand wird bezweifeln, dass die drei Vocale a, e, i als selbständige Einzellaute aufzufassen sind. Ihre Unterschiede beruhen auf einer Verschiedenheit der Zungenstellung. Bei der Aussprache eines m hat die Zunge an sich nichts zu thun; sie kann in der Ruhelage verharren. In den Silben ma, me, mi wird aber (vgl. namentlich unten 469 ff.) die Zunge schon während der Bildung des m mehr oder weniger die für das a, e, i nöthige Stelluug annehmen. Sind nun die m dieser drei Silben als drei selbständige Einzellaute anzusetzen oder nicht? Thatsächlich sind ihre Articulationsformen verschieden, so gut wie die der a, e, i; aber die Zungenstellung, welche bei diesen Vocalen den specifischen Klangunterschied bewirkt, verändert nicht in gleicher Weise stark den specifischen Klang des m, der im Unterschied zu dem Vocalklang in allen jenen drei m hervortritt. Was dort specifisch ist, ist hier nebensächlich, und kann demgemäss hier für die Definition des m ebenso gut ignorirt werden, wie die Tonstärke bei der Definition der Vocale. Auch hier also lässt sich eine Grenzlinie nur auf Grund praktischer Einzelerwägungen ziehen, nicht nach theoretischen Gesichtspunkten, denn es lässt sich nicht allgemein theoretisch feststellen, was für specifisch zu gelten hat und was nicht.

121. Die Zahl der an sich unterscheidbaren ‘Sprachlaute’ ist also, wie die Erfahrung in Uebereinstimmung mit der Theorie lehrt, eine unbeschränkte zu nennen. Aber aus dieser unendlichen Zahl wählt die Praxis zunächst nur eine beschränkte Anzahl von gegensätzlich verwendeten Typen oder Kategorien aus, um an deren specifische Charakteristica ihre Definitionen anzuknüpfen. Für jeden einzelnen Sprachlaut in diesem weiteren Sinne bleibt dabei ein gewisser Spielraum übrig, innerhalb dessen die Unterarten oder Varietäten ihren Platz finden, welche in der Sprache oder den verschiedenen Sprachen auftreten, und deren genaue Feststellung eine der Hauptaufgaben der beschreibenden Phonetik ist.

122. Bei dieser Betrachtung mussten die Gleitlaute ausgeschlossen werden, weil sie nicht einheitliche, isolirbare Theile der Sprache sind und daher auch keine einheitliche Definition gestatten. Sie werden eben deswegen nicht als selbständige Sprachlaute behandelt (vgl. 102) und finden deshalb erst bei der Combinationslehre ihre Besprechung.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/65&oldid=- (Version vom 23.5.2022)