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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

40 112. Vocal und Consonant.


Gruppe je zwei ‘Vocale’ oder einen ‘Diphthong’ zu, der zweiten je einen ‘Vocal’ und einen ‘Consonanten’. Sind aber die l, r des zweiten Falles ‘Consonanten’, d. h. Begleiter des Hauptlauts a, so müssen auch die i, u von ai, au als eben solche Begleiter ‘consonantisch’ fungiren bez. demgemäss hier als ‘Consonanten’ bezeichnet werden. Das was man genetisch ‘Vocale’ nennt, tritt also, wie man sieht, functionell bald als ‘ Vocal’, bald als ‘Consonant’ auf. Ebenso verhält es sich aber auch mit den ‘Consonanten’ des alten Systems. Muss, wie dieses System, gestützt auf die thatsächlichen Verhältnisse des Griechischen und Lateinischen (110), es verlangt, jede Silbe einen ‘Vocal” enthalten, so treten in überaus vielen Sprachen auch Laute, welche jenes System zu den ‘Consonanten’ zählt, ebensowohl in der Function von ‘Vocalen’, wie in der von "Consonanten’ auf, dergestalt dass diese Verschiedenheit der Function grossentheils etwas Zufälliges ist, dass sie zum Theil von der Stellung des einzelnen Lautes innerhalb der Silbe oder dem Wort, überhaupt von seiner nächsten Lautumgebung abhängt, in andern Fällen aber auch ganz willkürlich geregelt werden kann. Niemand kann z. B. daran zweifeln, dass Worte wie ritten, handel in ihrer landläufigen Aussprache eben so gut zweisilbig sind wie ritte, hände, dass also die Silben -ten, -del und -te, -de gleichwerthig sind. Untersuchen wir dieselben auf ihre Zusammensetzung hin, so finden wir, dass die beiden letzteren aus den ‘Consonanten’ t, d und dem ‘Vocal’ e bestehn. Während der Bildung des t, d sperrt die Zungenspitze den Mundraum luftdicht ab, zur Bildung des e senkt sie sich, der Luft freien Austritt aus dem Munde gestattend. Nur unter dieser Bedingung kann überhaupt ein e hervorgebracht werden. In -ten, -del schreiben wir zwar dasselbe Vocalzeichen e wie in -te, -de, aber der Aussprache ist es fremd. Spreche ich ritten aus, so bleibt die Mundhöhle von dem Moment an durch die Zungenspitze abgesperrt, wo das erste t articulirt wird; es kann also auf das t in Wirklichkeit ein e nicht folgen, vielmehr schliesst sich das n direct an das t an. Aehnlich bei -dl; die Zungenspitze bleibt in ihrer absperrenden Stellung bis zu Ende der Silbe; statt dass sie sich wie bei -de zur Bildung des e senkt, wird die Zunge weiter hinten so zusammengezogen, dass eine oder zwei kleine Seitenöffnungen entstehen, aus welchen das l heraustönt. Man spricht also rit-tn̥, han-dl̥, d.h. n und l sind dem e in rit-te, hän-de gleichwerthig, haben ‘vocalische’ Function. Kehrt man die Lautfolge um. so werden n, l zu

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/60&oldid=- (Version vom 23.5.2022)