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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

111. 112. Vocal und Consonant. 39


über die Bildungsart von Sprachlauten mit solchen über ihre Verwerthung bei der Silbenbildung unentwirrbar verquickt sind. Etymologisch betrachtet heisst litterae vocales nichts anderes als ‘Stimmlaute’, der Name geht also von der Lautbildung aus. Dann ist er aber auf alle Fälle zu eng, denn auch andere Laute als die ‘Vocale’ im traditionellen Sinne haben Stimme. Er ist auch dann noch zu eng, wenn man ihn auf die Laute beschränkt, die nur aus resonatorisch modifieirter Stimme bestehen (s. 71. 188 ff. etc.), denn zu diesen gehören ausser den ‘Vocalen’ mindestens meist auch noch die sog. ‘Liquidae’ und ‘Nasale’, welche die alte Auffassung doch wieder zu den ‘Consonanten’ rechnet. Wiederum wird der Name vocales auch wieder mit der Silbenbildung in Verbindung gebracht, indem er — für das Griechische und Lateinische auch wirklich ganz zutreffend — für jede Silbe einen ‘Vocal’ gewissermassen als ‘Hauptlaut’ der Silbe fordert. Der Name consonantes aber ist zunächst rein functioneller Natur, denn er benennt eine Summe von Lauten nur nach der Rolle, die sie als ‘Begleiter’ der Vocale (d. h. eben jener Hauptlaute) bei der Silbenbildung spielen, und ohne alle Rücksicht auf die specifische Art ihrer Erzeugung.

111. Trotz dieser Inconsequenz der Bezeichnungsweise würden sich die — nunmehr neu zu definirenden — Namen vocales und consonantes doch vielleicht weiter verwerthen lassen, wenn sich mitihnen überhaupt irgend eine bestimmte Scheidung der Laute sei es nach der genetischen, sei es nach der functionellen Seite hin glatt durchführen liesse. Das ist aber nicht der Fall, und darin liegt der zweite, praktische, Hauptfehler des alten Systems. Für die Unmöglichkeit einer solchen Scheidung legen schon die alten Hülfstermini wie ‘Diphthonge’, ‘Halbvocale’, ‘Liquidae’ und wie sie alle heissen mögen, ein halb unfreiwilliges Zeugniss ab. Genetisch widersinnig ist ferner die alte Scheidung, weil sie, wie bemerkt, die ‘Vocale’, d. h. a, e, i, o, u u.s.w. von den ihnen nächstverwandten Lauten, wie den Liquidae l, r und Nasalen m, n etc. willkürlich losreisst und so einen Gegensatz statuirt, der nicht vorhanden ist.

112. Ebenso schlecht steht es aber auch nach der functionellen Seite hin. Silben wie ai, au haben z. B. zweifellos genau denselben Typus der Bildung wie al, ar, indem sie sämmtlich aus einem ‘Hauptlaut’ (hier a) und je einem ‘Begleiter’ (i, u; l, r) bestehen, und doch schreibt die alte Auffassung der ersteren

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/59&oldid=- (Version vom 23.5.2022)