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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

32 96. 97. Schallbildende und schallmodificirende Articulation.


im Ansatzrohr verhalten sich denen des Kehlkopfs analog: auch sie gelangen nicht unverändert zum Ohr des Hörers, sondern auch sie werden stets durch einen Theil des Ansatzrohrs resonatorisch modificirt. Bei dem am Gaumen gebildeten ch wirkt z. B. der Theil der Mundhöhle, welcher vor der ch-Enge liegt, als Resonanzraum mit. Es sind also ohne Ausnahme bei jedem Sprachlaut beide Arten von Articulation vorhanden. Dass wir die Wirkung der schallmodifieirenden Articulationen bei den ‘Consonanten’ nicht so wahrzunehmen pflegen wie bei den ‘Vocalen’, hat seinen Grund theils darin, dass wir überhaupt nicht gewohnt sind darauf zu achten, theils darin, dass sie in der That nicht so sehr ins Ohr fallen wie bei den Vocalen. Man kann sich aber leicht überzeugen, dass sie thatsächlich jederzeit vorhanden sind. Man spreche z. B. anhaltend ein s oder ch und verändere während dessen die Gestalt der Mundöffnung beliebig; jede Veränderung der Lippenstellung wird dann eine andere Färbung des s oder ch zur Folge haben. Denselben Versuch kann man beim m bezüglich der Unterkiefer- und Zungenstellung machen, u. s. w. mit den nöthigen Modificationen bei allen Consonanten. Ueberall bleiben hierbei die schallbildenden Articulationen ungeändert bestehn, nur ein an diese Articulationsstellen angrenzender Resonanzraum wird verschieden umgestaltet. Ob den Einwirkungen desselben ein musikalischer Klang, wie bei den ‘Vocalen’ und einigen ‘Consonanten’, oder ein Geräusch, wie bei den übrigen ‘Consonanten’, unterliegt, ist nur insofern nicht gleichgültig, als die akustisch einfacheren Klänge (also auch die Stimme) viel empfindlicher gegen resonatorische Einflüsse sind, als die Geräusche.

96. Aus diesem (und dem gleich nachher zu nennenden) Grunde erscheint uns nämlich der Unterschied zwischen i und u z. B. um so viel bedeutender als der ganz analoge zwischen einem s mit spaltförmiger oder gerundeter Mundöffnung (s. 469 ff.), dass wir nicht nur i und u als gesonderte Laute betrachten, sondern zwischen ihnen noch eine ganze Vocalscala einschieben, während wir die Verschiedenheit jener s gar nicht oder doch nur selten wahrnehmen.

97. Ausserdem ist noch zu beachten, dass ein Laut um so mannigfacher und deutlicher modifieirt werden kann, je grösser und veränderungsfähiger das zur Resonanz dienende Stück des Ansatzrohrs vor der Articulationsstelle ist, d.h. je weiter rückwärts im Sprachorgan seine schallbildende Articulation stattfindet. In erster Linie stehen also hier die Vocale (deren Unterschiede überhaupt bloss auf schallmodifieirender Articulation

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/52&oldid=- (Version vom 23.5.2022)