Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen | |
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22 | 59. Begriff der Articulation. 60. Die Respirationsverhältnisse. |
und die ruhige Athmung ihren Fortgang behält. Auch durch
blosse Steigerung des Drucks beim gewöhnlichen Athmen bringt
man, auch bei geöffnetem Munde, nicht eigentliche Sprachlaute
hervor (auch nicht das h, s. 391 f.), sondern nur gewisse Geräusche,
wie Schnaufen, Keuchen, Schnarchen, je nachdem
Mund und Nase oder bloss die letztere geöffnet ist. Zur Bildung
sog. articulirter Sprachlaute ist erforderlich, dass
der durch das Sprachorgan geführte Luftstrom in bestimmter
Weise willkürlich geregelt und ihm auf seinem Wege durch
Kehlkopf und Ansatzrohr irgendwo ein Hemmniss entgegengestellt
wird, das zur Erzeugung eines Schalles führt. Es gehören
demnach zum Begriffe der Articulation streng genommen
nicht nur die Bewegungen, durch welche Kehlkopf oder
Ansatzrohr zur Bearbeitung dieses Luftstroms aus ihrer Ruhelage
herausbewegt werden, sondern auch jene willkürliche
Regelung des Luftstroms selbst. Doch ist es vielfach üblich
gewesen, das Wort 'Articulation’ in dem engeren Sinne etwa
von specifischer Einstellung’ zu gebrauchen, also nur von Articulationen
des Kehlkopfs und des Ansatzrohrs zu sprechen. In
diesem engeren Sinne soll denn der Ausdruck auch im Folgenden
allein gebraucht werden.
59. Für die Ausdehnung des Begriffes der Articulation auch auf die vom normalen Athmungsrhythmus abweichende, zum Zweck der Sprachbildung willkürlich geregelte Respiration plaidirt namentlich Techmer (s. besonders Zeitschr. f. allg. Sprachwissenschaft I, 106 ff.).
60. Beim Athmen wird die Luft unter wesentlich gleichen Druckverhältnissen und in gleichen Zeiträumen langsam und gleichmässig eingezogen und ausgetrieben. Beim Sprechen wird dagegen zunächst durch einen raschen Hub des Brustkastens ein grösserer Vorrath von Luft schnell in die Lungen eingeführt. Die Austreibung aber geschieht mehr in abgebrochenen einzelnen Stössen von verschiedener, aber geregelter Dauer und sehr verschiedenem, aber geregeltem Druck. Trotz dieser Discontinuität der einzelnen Luftstösse pflegt man aber auch hier zusammenfassend von einem Respirations- oder Athmungsstrom zu sprechen. Um aber diesen arbeitenden Strom von dem des gewöhnlichen Athmens zu unterscheiden, kann man ihn, anknüpfend an die erwähnte Druckregulirung etwa als Druckstrom bezeichnen, die einzelnen Stösse als Druckstösse. Von der jeweiligen Stärke des Druckstroms
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/42&oldid=- (Version vom 11.5.2022)