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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

18 43—47. Das menschliche Sprachorgan.


c) die Vorstülpung, die man ebenfalls bei der Bildung der u, o, ö, ü oder gewisser Arten von sch beobachten kann.

43. Die Rundung selbst geschieht entweder dadurch, dass man die seitlichen Theile der Lippen auf einander presst und demnach nur in der Mitte eine Oeffnung lässt (verticale Rundung), oder dadurch, dass man die beiden Mundwinkel einzieht (horizontale Rundung). Beide Arten können sich auch mit einander verbinden, die verticale Rundung auch mit spaltförmiger Ausdehnung der Lippen.

44. Die Vorstülpung ist immer mit einer gewissen Rundung verbunden. Auch bei ihr sind verschiedene Formen zu unterscheiden, je nachdem der vorgestülpte Lippensaum eine mehr kreisförmige oder mehr viereckige Oeffnung bildet. Erstere ist den Vocalen wie u, o, ö, ü eigen, letztere findet sich namentlich öfter bei sch-Lauten vertreten.

45. Im Uebrigen versäume man nicht, sein Augenmerk auch auf die verschiedenen Stärkegrade zu richten, in

denen die Lippen sich bei der Sprachlautbildung betheiligen. So pflegt z. B. beim « die Rundung stärker zu sein als beim geschlossenen o, und bei diesem stärker als beim offenen o; ähnlich bei der Reihe ü, ö, so zwar, dass die Rundung des die des # oft noch übertrifft, während die des geschlossenen ö etwa der des u gleichkommt, u. dgl. mehr.

46. Bei der Beobachtung der Bildung der einzelnen Sprachlaute pflegt sich unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf die Thätigkeit der Zunge und des Kehlkopfs zu concentriren, und man geräth dabei leicht in Gefahr, die der Lippen zu übersehen. Vor diesem Fehler ist aber eindringlichst zu warnen, da auch die Lippenthätigkeit insbesondere bei der Vocalbildung eine sehr bedeutende Rolle spielt. So beruht, um nur eins gleich hier anzuführen, der eigenthümliche Klangcharakter des englischen Vocalismus wesentlich mit auf der geringen Theilnahme der Lippen an der Sprachlautbildung (wie es denn in England eine ausgesprochene Anstandsregel ist, die Lippen beim Sprechen möglichst wenig zu bewegen). Für manche deutsche Mundart ist die starke Vorstülpung der Lippen bei der Rundung charakteristisch, so dass ein Deutscher leicht zu der Meinung geführt werden kann, als seien Rundung und Vorstülpung im Wesentlichen eine einheitliche Handlung. Aber das Schwedische zeigt z. B. sehr starke Verengungsgrade bei dichter Anpressung der Lippen an die Zähne, es erscheint also dort die Zusammenziehung der Lippenspalte durchaus unabhängig von der Vorstülpung. Auch dem Englischen geht die Vorstülpung fast ganz ab, ohne dass dieser Sprache deshalb die Rundung fehlte.

48. Hinter den Lippen bilden die Zähne eine abermalige Verengung des Ansatzrohrs, welche unter Umständen für die der Lippen vicarirend eintreten kann.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/38&oldid=- (Version vom 11.5.2022)