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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

41. 42. Das menschliche Sprachorgan. 17


Winkel, welchen der Unterkiefer mit dem Oberkiefer macht, pflegt man als Kieferwinkel zu bezeichnen. Sind die beiden Zahnreihen fest auf einander gepresst, so ist der Kieferwinkel gleich Null; er wächst, je mehr der Unterkiefer gesenkt wird und nimmt ab bei jeder Hebung desselben. Der Grösse des Kieferwinkels entsprechen daher die Veränderungen des Rauminhalts wie der Form der Mundhöhle, welche durch einfache Senkung oder Hebung des Unterkiefers bedingt werden. Die Mannigfaltigkeit dieser Veränderungen wird sodann noch vermehrt durch die Bewegungen der an Ober- und Unterkiefer angehefteten selbständig beweglichen Weichtheile, nämlich des weichen Gaumens, der Zunge und der Lippen.

41. Für die Praxis ergibt sich hieraus die Regel, im Einzelfalle jedesmal festzustellen, welchen Antheil an einer Raumveränderung der Mundhöhle der Kieferwinkel und die Stellung der beweglichen Weichtheile hat. Im Allgemeinen ist jedoch zu bemerken, dass dem Kieferwinkel als solchem eine besondere Wichtigkeit nicht zukommt. Die erforderliche Mundstellung wird in der Regel durch einen Ausgleich zwischen den beiden genannten Factoren hergestellt, und zwar so, dass bei geringeren Umstellungen meist nur die Weichtheile thätig sind und nur bei grösseren Veränderungen der Stellung auch der Unterkiefer je nach Bequemlichkeit oder Gewohnheit mehr oder weniger mit bewegt wird.

42. Ueber Form und Bewegung der Lippen, mitderen Beschreibung wir aus Rücksichten der Anschaulichkeit beginnen, lehrt die einfache Anschauung alles Nöthige. Man unterscheide zunächst zwischen passiven und activen Bewegungen der Lippen. Passiv sind diejenigen Bewegungen, welche allein durch die Hebung oder Senkung des Unterkiefers bedingt sind. Die Oeffnung der Lippen, welche diesergestalt durch Senkung des Unterkiefers hervorgebracht wird, und deren Grösse, wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, der Grösse des Kieferwinkels proportional ist, kann man als indifferente oder neutrale Lippenöffnung bezeichnen. Solche Lippenöffnung haben beispielsweise Vocale wie a, ä, e. An activen Lippenbewegungen sind drei zu unterscheiden, nämlich

a) die spaltförmige Ausdehnung der Lippenspalte durch Auseinanderziehen der Mundwinkel, wie eventuell beim hellen : (oder z. B. beim Lächeln oder Lachen).

b) de Rundung, d. h. eine (active) Verkürzung des Längendurchmessers der Mundspalte, die zu einer mehr oder weniger ringförmigen oder ovalen Verengung der Mundöffnung führt, wie etwa bei u, o, ö, ü; endlich

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Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/37&oldid=- (Version vom 11.5.2022)