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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

6 10. 11. Stellung, Aufgabe und Methode der Phonetik.


einer Cultursprache irgendwo eine grössere Einheit (und diese könnte erfahrungsgemäss doch nicht anders als durch künstliche Züchtung auf Grund eines aus einer früheren Sprachperiode überlieferten Schriftsystems entwickelt sein), wie könnten aus ihr gewonnene Anschauungen zur Aufklärung der so oft von der Einheitlichkeit zur Vielfachheit hindrängenden Sprachentwicklung dienen? Dazu kommt, dass die einzelnen modernen Cultursprachen einander zu fern stehen, als dass man aus ihrer Vergleichung allein mit der erforderlichen Sicherheit allgemeinere Sätze über Laut- und Sprachentwicklung ableiten könnte. Hier müssen die Mundarten ergänzend eintreten, weil sie allein die dort fehlenden Mittelglieder zu liefern im Stande sind. Zudem vermögen die Mundarten dem Beobachter in der Regel ein viel deutlicheres Bild von der Consequenz der Lautgebung und Lautentwicklung zu geben als die Schrift- und Cultursprachen, die nicht nur in ihrem jeweiligen Bestande ein Gemisch von Sprach- und Lautformen verschiedenartigsten Ursprungs darzubieten pflegen, sondern auch allzeit viel mehr willkürlichen Beeinflussungen seitens des einzelnen Individuums unterliegen, als die nur durch die unbewusste und deshalb stetigere Tradition des mündlichen Verkehrs fortgepflanzten Idiome des niederen Volkes.

10. Den Ausgangspunkt für alle phonetischen Studien muss sonach dem Sprachforscher die ihm von Jugend auf geläufige Mundart bilden. Ist ihm eine eigentliche Volksmundart nicht zugänglich, so halte er sich zunächst wenigstens an die unbefangene, leichte Umgangssprache der Gebildeten seiner Heimath, nicht an die meist künstlich gemachte und darum oft inconsequente Sprechweise der Schule, der Kanzel, des Theaters oder des Salons. Erst wenn man zu völliger Klarheit über alle lautlichen Erscheinungen der eigenen Mundart gekommen ist, gehe man zum Studium erst näher liegender, dann allmählich auch zu dem ferner stehender Mundarten und Sprachen über, und wenn es irgend angeht, suche man sich eine oder mehrere Mundarten vollkommen anzueignen.

11. Ueber die Art, wie man bei diesem fortschreitenden Studium insbesondere die Lautsysteme verwandter Mundarten zu betrachten hat, sind unten namentlich in den Schlussbetrachtungen des Cap. 11 (285 ff.) einige nähere Andeutungen gegeben. Es sei aber auch hier schon nachdrücklichst darauf hingewiesen, dass die Aufgaben der historischen Phonetik nicht durch blosse statistische Betrachtung von Einzellauten und

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/26&oldid=- (Version vom 23.5.2022)