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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

641—644. Die Abstufung innerhalb der Sprechtakte. 239


der starken, : nach dem Sonanten der mittelstarken Silben, die schwachen Silben bleiben unbezeichnet. Das Beispiel von 619 würde hiernach gie·pmirda:s bū·xē:r zu schreiben sein. Dass übrigens mit dieser Dreitheilung die Zahl der möglichen Abstufungsgrade noch nicht erschöpft ist, versteht sich von selbst.

642. Die Unterscheidung dieser drei Stufen deckt sich mit der Lachmann’schen Unterscheidung von Hochton, Tiefton, Unbetontheit. Diese Namen aber sind phonetisch nicht verwendbar, da es sich nicht um Höhe und Tiefe, iiberhaupt nicht um Töne (d. h. Tonhöhen) handelt, sondern ausschliesslich um Stärke und Schwäche der betreffenden Silben. Man müsste also jene Ausdrücke, um sie verwendbar zu machen, mindestens in (exspiratorischer oder dynamischer) Hauptaccent, Nebenaccent und Unaccentuirtheit verwandeln, da wir das Wort ‘Accent’ einmal als neutralen Ausdruck sowohl für Stärke- wie für Tonhervorhebungen verwenden.

643. Ueber dieLagerung der Silben mittlerer Stärke zu den starken Silben lassen sich feste Regeln nicht geben. Im Deutschen folgt im zweisilbigen Takt auf die starke Silbe in der Regel eine schwache, wie in gā̀·bᵊ, ʿá·tn, ʿá·ndl ‘Gabe, hatten, Handel’; eine mittelstarke meist nur, wenn die zweite Silbe einen ‘vollen Vocal’ enthält, wie in á·nā:, ó·tō:, wirkli:ꭓ ‘Anna, Otto, wirklich’. In isolirten mehrsilbigen Takten macht sich meist das Bestreben geltend, schwache Silben mit stärkeren regelmässig abwechseln zu lassen, d. h. es folgt auf die starke Anfangssilbe eine schwache, dann eine mittelstarke, wieder eine schwache, mittelstarke u.s. w.

644. Was das Verhältniss der Taktabstufung zum dynamischen Wortaccent, d.h. zur Stärkeabstufung der Silben im Worte anlangt, so bilden selbstverständlich die stärksten Silben der Wörter die starken Silben der Takte, und diese pflegen in den meisten Fällen festzustehn. Auch die mittelstarken Silben der Wörter geben im Allgemeinen mittelstarke Silben im Takt ab. Aber die Vertheilung der mittelstarken Silben im Worte ist, wenigstens im Deutschen, nicht immer fest, sondern sie richtet sich oft auch nach der Zusammensetzung des Taktes oder der Takte, welche das Wort füllt, namentlich bei mehr getragener Recitation, insbesondere im Verse. Bei rascherem Sprechen von mehrtaktigen Sätzen aber lassen wir oft eine an sich mittelstarke Silbe durch eine folgende stärkere zur schwachen Silbe herabdrücken; wir sagen z. B. im Bühnendeutschen und den mittel- und norddeutschen Mundarten mūti̥gᵊ: in Pausa (mū·ti:gᵊ scheint dagegen im Süden sich zu finden), aber mū·tigᵊ me·nᵊr u. dgl.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/259&oldid=- (Version vom 6.1.2024)