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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

635—636. Die Formen der Sprechtakte. 237


kräftigeren Charakter, Auch sind die Hebungen der steigenden Füsse meist etwas mehr gedehnt als die der fallenden (was sich namentlich auch wieder in der Composition bemerklich macht). Die steigend-fallenden Füsse nehmen eine Art Mittelstellung ein.

635. Die Musik ignorirt im Ganzen diesen Unterschied, indem sie aus praktischen Gründen ihre Takte schematisch von Hebung zu Hebung misst, d. h. den Taktstrich stets unmittelbar vor die Hebung setzt, unbekümmert darum, ob an der betreffenden Stelle ein rhythmisch-melodischer Bruch einsetzt oder nicht (als Ergänzung, d.h. zur Hervorhebung der nicht mit den abstracten, nur der Zeitmessuug dienenden Takten identischen rhythmisch-melodischen Gruppen, wird gelegentlich der Figurationsbogen gebraucht). Infolge dieser mangelhaften Bezeichnungsweise wird denn auch der Unterschied der verschiedenen Rhythmenformen selbst beim Vortrag oft verwischt, namentlich bei der Instrumentalmusik, seltener beim Gesang, wo die Sinnesgliederung des Textes die rhythmische Gliederung stützen hilft. So sind also gerade beim Gesang die verschiedenen Arten derrhythmischen Bindung gut zu beobachten. In dem Simrock’schen Liede »Warnung vor dem Rhein« sind z. B. die beiden ersten Zeilen der Strophe (an den Rhéin, | an den Rhéin, | geh nícht | an den Rhéinmein Sóhn, | ich rá- | the dir gút ‖) steigend, die dritte ist steigend fallend (da géht dir | das Lében | zu líeblich | Eín ‖), die vierte fallend mit Auftakt (dablǘht dir zu | fréudig der | Múth ‖). Hat man sich einmal daran gewöhnt, auch beim Gesang die wahren Rhythmusgruppen auszuscheiden, so wird man sie auch im Sprechvers und der Prosarede leicht wiedererkennen. Nur stehen sie da in noch viel freierem Wechsel als im Gesang, und gerade darauf beruht ein guter Theil der eigenthümlichen Wirkung solcher Partien (vgl. etwa Stellen wie er fégte | die Félder, | zerbrách | den Fórstauf | Flǘssen und | Séen das | Grúndeis | bórst, wo eine Gruppirung der Schlusszeile nach dem Muster der ersten, also auf Flǘssen | und Séen | das Grúnd- | eis bórst abscheulich wäre).

636. Eine einheitliche Bezeichnungsweise für die verschiedenen Arten der Sprechtakte wird sich schwer auffinden lassen. Sweet theilt alle Sprechtakte nach dem Muster der musikalischen Taktbezeichnung ab, d.h. lässt sie stets mit der Hebung beginnen und fasst unbetonte Silben vor dieser stets als Auftakt, schreibt sie demnach eventuell getrennt und bezeichnet ihre Unbetontheit durch vorgesetztes - (er würde also z. B. den steigend-fallenden Takt wobístu? in -wo bistu zerlegen). Im Grossen und Ganzen trifft ja diese Zerlegung für die Sprachen mit Anfangsbetonung, wie eben die germanischen, zu, aber sie verwischt doch auch hier nicht, selten die wahre rhythmische Gliederung, und reicht daher namentlich für die Zerlegung der gebundenen Rede in ihre rhythmischen Elemente nicht aus.

3. Die Abstufung innerhalb der Sprechtakte.

637. Die einzelnen Silben des mehrsilbigen Sprechtakts unterscheiden sich, wie bereits angegeben (620), durch ihre verschiedene Stärke. Die stärkste Silbe eines solchen Takts bezeichnet man im Deutschen herkömmlich als die Tonsilbe

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/257&oldid=- (Version vom 6.7.2023)