Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/256

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

236 631—634. Die Formen der Sprechtakte.


fallenden (trochäisch-daktylischen) Gang verschieden ist. Man denke sich z. B. den Satz ‘und er gibt mir das Büch und geht weg’ in aufgeregt ärgerlichem Ton, mit dem Nachdruck auf dem Ende gesprochen, so stellt sich die Takttheilung undᵊrgip(t) | mirdasbū́ | xuꬻgētwéꭓ fast unwillkürlich ein; oder vgl. erregtes denk dir, | da kómmt | der Kérl | und schlā́gt | ihn mit der Faüst | ins Gesicht mit ruhig erzählendem da | kám ein | Mánn und | schlúg ihn mit der | Faúst ins Ge- | sicht u. dgl.

631. Steigend-fallende (ʻamphibrachische’) Sprechtakte: die stärkste Silbe steht in der Mitte des Taktes wie etwa in dem Satze wo bist du? u. dgl. Auch diese Form findet sich im Deutschen meist wieder nur isolirt (wie in dem angezogenen Beispiel), in grösserem Zusammenhang meist nur bei schärfer gliederndem Kunstvortrag. Um so häufiger tritt sie — im Wechsel mit andern, namentlich daktylisch-anapästischen Formen — in der Dichtung auf (ein grosser Theil der daktylisch-anapästisch gemeinten Verse Zesen’s und seiner Nachfolger ist z. B. in Wirklichkeit amphibrachisch gebaut, vgl. etwa Verse wie Was strahlet, | was prahlet, | was blitzen | für Spitzen | in diesem | fürtreffli- | chen Zimmer | allhier?).

632. Die amphibrachischen Sprechtakte sind besonders empfindlich gegen Veränderungen der Form: sie gestatten kaum mehr als drei Silben in der angegebenen Gruppirung (Schema 123). Sobald die Silbenzahl wächst, verschiebt sich gewöhnlich die Gruppirung, d. h. die amphibrachischen Sprechtakte setzen sich in numerisch verwandte (daktylische oder anapästische) Formen um.

633. Auftakt. Von den Sprechtakten mit steigendem Eingang (den echt steigenden und steigend-fallenden Formen) sind streng zu unterscheiden fallende Takte mit vorausgehendem Auftakt, d. h. einer schwächer betonten Silbe oder Silbenfolge, die ausserhalb der rhythmischen Gruppe steht. Bei diesen setzt der neue Impuls bez. die rhythmische Figur (621) erst nach jenem unbetonten Stück ein, das eben durch den folgenden Bruch isolirt und dadurch zum ‘Auftakt’ im eigentlichen Sinne des Wortes wird.

634. Diese Unterscheidung ist besonders auch für die Metrik, sowohl des Gesangs- wie des Sprechverses, von Bedeutung, denn sie trägt viel dazu bei, dem Vers seinen specifischen rhythmischen Charakter zu verleihen. Der fallende Fuss hat durchgehendes Decrescendo; dies erstreckt sich auch auf die Hebung, die also mit abnehmender Stärke, mehr verklingend gesprochen (bez. gesungen) wird; bei dem ganz crescendo gebildeten steigenden Fuss bleibt auch die Hebung bis zum Schluss gleich stark, und der plötzliche Abbruch danach verleiht dem Verse einen

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/256&oldid=- (Version vom 6.7.2023)