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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

626. Taktgliederung. 627—630. Formen der Sprechtakte. 235


626. Taktgliederung und Satzinhalt. Die Taktgliederung eines jeden Satzes in dem oben 611 bestimmten Sinne ist ein für allemal unveränderlich. Jede Veränderung der Taktgliederung einer gegebenen Wortreihe verändert auch den Sinn der Wortreihe, d. h. schafft jedesmal einen neuen Satz. So ergibt eine vierfach verschiedene Taktgliederung der Wortreihe er hat das Buch die vier verschiedenen Sätze ḗrhatas | bū́x (der Accent möge hier einfach die starken Silben der Takte hervorheben) = ér hat das Buch, ᵊrhátas | bū́x — er hát das Buch, ᵊrhatás | bū́x oder ᵊrhatásbū́x = er hat dás Buch, und ᵊrhatasbū́x = er hat das Büch.

2. Die Formen der Sprechtakte.

627. Ueber die Silbenzahl der Sprechtakte lassen sich allgemeine Regeln nicht aufstellen, da das Maximalmass von den Sprechgewohnheiten der einzelnen Sprachen abhängt. Nur lässt sich sagen, dass Sprechtakte um so länger werden können, je mehr sich eine Sprache besonders starker exspiratorischer Accente bedient: je stärker die Haupttonsilbe eines Taktes, um so mehr schwächere Silben kann sie tragen. Im Deutschen, Englischen und ähnlichen Sprachen kommen daher sehr lange Sprechtakte vor (vgl. übrigens hierzu unten 652 f.).

628. Die rhythmischen Formen der Sprechtakte können sehr mannigfaltig sein. Auch in Prosa können alle die verschiedenen Formen vorkommen, die wir im Verse als Versfüsse bezeichnen. Die häufigsten Arten sind wohl:

629. Fallende (‘trochäisch-daktylische’) Sprechtakte: der Sprechtakt beginnt mit der stärksten Silbe, die schwächeren Silben folgen nach. Diese sind in Sprachen wie dem Deutschen, Englischen u. s. w., welche meist den Wortanfang betonen, weitaus am gewöhnlichsten.

630. Steigende (‘iambisch-anapästische’) Sprechtakte: die stärkste Silbe steht am Schlusse des Sprechtakts, die schwächeren gehen voran, z. B. nhd. gipʿḗr, haltán = ʻgib hér, halt än’. Im Allgemeinen sind diese Takte bei uns seltener; am ersten finden sie sich noch, wenn sie isolirt stehen, namentlich nach ihrem Ende zu (wie das in den gegebenen Beispielen der Fall war). Doch verfallen wir auch im Deutschen, namentlich bei erregter Sprechweise, oft bei längeren Sätzen in durchgehends steigenden (iambisch-anapästischen) Rhythmus, der durch grössere Lebhaftigkeit von dem ruhigeren

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/255&oldid=- (Version vom 6.7.2023)