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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

234 624. 625. Der Satz und seine Glieder.


wie dem Deutschen die Grenzen von Wörtern und Sprechtakten oft thatsächlich, z. B. in einem Satze wie die feindlichen | Reiter | kamen | gestern | wieder. Aber ebenso oft, ja öfter kommt es vor, dass einzelne Wörter auf verschiedene Takte vertheilt werden, ohne dass die Sprache dadurch das geringste an Deutlichkeit einbüsst. In dem Satze wo sind die Gefangenen? (gesprochen -wozindigᵊ | fanᵊnᵊn?, wobei - vor wo anzeigen möge, dass die erste Silbe unbetont ist) gehört das gᵊ- von ‘Gefangenen’ phonetisch ebensogut zum Vorhergehenden wie die letzte Silbe von ‘feindlichen’ im vorigen Beispiel. Auch das begrifflich selbständige di steht phonetisch nicht anders da als die Mittelsilbe li des gedachten Wortes; in gipmirdas | būxēr wird der begrifflich zum folgenden būz gehörige Artikel das rhythmisch von diesem getrennt und zum Vorhergehenden gezogen, u.s. w. (man sieht also deutlich, dass eine begriffliche Analyse des Satzes beim Sprechen nicht stattfindet, welche sonst nothwendig auch eine phonetische Bindung des begrifflich Zusammengehörigen und eine phonetische Trennung des begrifflich Unverbundenen hätte hervorrufen müssen).

624. Dieser Gesichtspunkt ist für die Lehre von den ‘unbetonten’ Wörtern, wie Encliticae und Procliticae ete., von grosser Bedeutung, aber sehr oft zu Gunsten theoretischer Erwägungen über die Nothwendigkeit phonetischer Selbständigkeit begrifflich selbständiger Satztheile hintangesetzt worden; beispielsweise in der Lachmann’schen Formulirung der mittelhochdeutschen Metrik, welche lehrt, dass nicht ein selbständiges Wort zu Gunsten einer Endsilbe eines andern in die Senkung gesetzt werden dürfe (in Fällen wie mhd. wâgen den lîp), weil es als selbständiges Wort Anspruch auf grössere Hervorhebung habe. Hier entscheidet niemals der begriffliche Werth an sich, sondern lediglich die Sprechgewohnheit der einzelnen Sprache.

625. Wort- und Takttrennung dürfen also zwar zusammenfallen, aber in wohlgegliederter Rede, und namentlich im Verse, darf dies nicht allzuhäufig geschehen. Denn die Häufung von begrifflicher und rhythmischer Trennung (Wort- und Takttrennung) an derselben Stelle des Satzes prägt die Trennungseinschnitte zu scharf aus und lässt somit die einzelnen Theile des Satzes zu sehr auseinanderfallen. Bei Kreuzung von Wort- und Takttrennung wird dagegen der begriffliche Bruch zwischen Wort und Wort durch die rhythmische Bindung und der rhythmische Bruch innerhalb des Wortes durch die begriftliche Zusammengehörigkeit der getrennten Stücke gemildert und dadurch ein vollkommenerer Wohllaut erzielt.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/254&oldid=- (Version vom 6.7.2023)