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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

621—623. Der Satz und seine Glieder. 233


sein; sie werden vielmehr in der Regel derart geordnet, dass sich schwächer gesprochene Silben mit einer stärker gesprochenen zu einer in sich geschlossenen Gruppe verbinden, die sich von etwaigen Nachbargruppen mehr oder minder deutlich abhebt. So haben wir in dem Satze kommst du | morgen | wieder? einen dreimaligen Wechsel von stärkerer und schwächerer Silbe oder drei solche Silbengruppen;; in dem Satze geb mir das Buch her erkennen wir eine dreisilbige und eine zweisilbige (gipmirdas | būxēr); in allen diesen Beispielen steht die dominirende stärkste Silbe zu Anfang der Gruppe.

621. Diese Gruppenbildung ist wesentlich exspiratorischer Art, d. h. die Druckstösse für die einzelnen Silben der Gruppe werden zu einer höheren Einheit zusammengefasst. Eine solche Gruppe ist gewissermassen eine aus Einzelbewegungen zusammengesetzte rhythmische Figur, nach deren Ablauf, ganz wie beim Tanz, eine neue ähnliche oder gleiche Figur sich anschliessen kann. ‚Jede neue Figur setzt mit einem eigenen Willensimpuls ein, der sich auf die Gesammtgruppe erstreckt, und dieser neue Einsatz macht sich in einem deutlicheren Einschnitt in der Exspiration geltend, d.h. die Exspirationsgrenzen zwischen Gruppe und Gruppe sind stärker markirt als die zwischen den einzelnen Silben einer Gruppe. Man könnte diese Gruppen daher als Exspirationsgruppen bezeichnen; doch hat sich dafür mehr und mehr der Name Sprechtakt eingebürgert, der von der Aehnlichkeit dieser Silbengruppen mit den musikalischen Takten hergeleitet ist und sich auch darum empfiehlt, weil er auch auf ein zweites Hauptelement der Gruppenbildung, die Dauer, Rücksicht nimmt (hierüber s. 719 ff.). Sweet bezeichnet sie als stress-groups, d.h. Gruppen, die durch einen stress oder starken Accent zusammengehalten werden.

622. In Hinsicht auf seine phonetisch-rhythmische Gliederung zerfällt also der längere Satz zunächst in Sprechtakte, und diese können sich wieder in Silben zerlegen. Das Minimalmass des Satzes ist éin Sprechtakt, das Minimalmass eines Sprechtakts éine Silbe. Bei einem einsilbigen Satze wie komm! fallen also Satz, Sprechtakt und Silbe ihrem Umfange nach zusammen.

623. Wörter und Sprechtakte. Die rein phonetischrhythmische Gliederung des gesprochenen Satzes darf nicht mit der logisch-etymologischen Zerlegbarkeit des Satzes in Wörter (613) verwechselt werden. Allerdings decken sich in Sprachen

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/253&oldid=- (Version vom 6.7.2023)