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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

615. 616. Der Wort- und Satzaccent im Allgemeinen. 231


(vier je nach der ‘Betonung’ der einzelnen Wörter, wie angegeben), vier Fragesätze, vier Ausrufssätze der Freude, des Staunens, des Aergers u.s.w.

615. Es ist also klar dass die phonetische Untersuchung des Satzbaues nicht von den Wörtern ausgehen darf, die im Satze gebunden erscheinen. Phonetisch betrachtet ist der gesprochene Satz (um den es sich doch allein handeln kann, da ‘geschriebene Sätze’ überhaupt Undinge sind) in der naiven Sprache eine geschlossene phonetische Einheit, wie er denn auch gar oft gesprochen und verstanden wird, ohne dass Sprecher und Hörer sich der einzelnen Theile (d.h. der Wörter) bewusst werden, aus denen der einzelne Satz begrifflich besteht. Die einzelnen Wörter werden ja im Zusammenhang des Satzes oft so verstimmelt, dass man sie als phonetische Theilstücke gar nicht mehr isoliren kann, und doch wird der ‘Satz’ richtig verstanden. In der hessischen Mundart werden z. B. die drei Wörter wollen, wir, gehn zusammengezogen zu dem dreisilbigen Fragesatz wómᵊgḕn?, die vier Wörter wollen, wir, denn, gehn zu dem nur zweisilbigen Fragesatz womgen? (mit langem silbischem m). Isolirt würden die Wörter dort wóln, mī̀r, dén, gḕn lauten: in den zusammengezogenen Gruppen oder Sätzen ist von den Lauten der Einzelwörter wenig genug geblieben, und doch ist die verschiedene Bedeutung der beiden Sätze jedem Hörer sofort klar, auch ohne den Versuch einer begrifflichen Analyse.

616. Und so ist es schliesslich überall. Erst eine weitgreifende Speculation lehrt uns allmählich den Satz in seine begrifflichen Elemente (eben in die Wörter) zerlegen, und diese Zerlegung ist eine Hauptarbeit des Grammatikers und Lexicographen. Je naiver, je weniger grammatisch gebildet Sprecher und Hörer sind, um so weniger machen sie beim Sprechen und Verstehen Gebrauch von einer begrifflichen Analyse des Satzes: sie bilden weder ihre Sätze nach einem logisch-grammatischen Schema, noch verstehen sie sie danach, vielmehr thun sie beides in unbewusster Nachbildung und Nachempfindung gewisser durch den Gebrauch verständlich gewordener Satztypen. Je naiver eine Sprache, um so ungestörter und geschlossener ist daher auch die phonetische Einheit und die phonetische Gliederung der Sätze. Aber auch selbst beim grammatisch geschulten Sprecher ist, abgesehn vielleicht von logisch oder rhetorisch besonders pointirter Sprechweise, wie sie namentlich dem

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/251&oldid=- (Version vom 6.7.2023)