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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

230 612—614. Der Wort- und Satzaccent im Allgemeinen.


612. Ein jeder solcher Satz ist absolut eindeutig, und ein richtig gehörter Satz kann daher von dem Hörer stets nur in dem Sinne aufgefasst werden, in dem er von dem Sprecher gemeint war, vorausgesetzt dass beide der betreffenden Sprache vollkommen mächtig sind. Auf den Umfang des Satzes kommt es dabei gar nicht an. Sätze die nur aus einer einzigen Silbe bestehen, wie ja, nein, hier, dort, ferner Interjectionen u. dgl. sind in ihrem Zusammenhang ebenso verständlich und eindeutig wie die complicirtesten Perioden.

613. Der Inhalt eines Satzes kann begrifflich einheitlich oder mehrtheilig sein. Der Satz ich (als Antwort etwa auf eine Frage gegeben) ist einheitlich, der Satz er hat das Buch gestattet eine Zerlegung in die Begriffe er, haben, das, Buch. Die Träger dieser begrifflichen Theilglieder des Sinnes nennen wir Wörter. Man kann daher auch sagen dass ein Satz je nachdem aus deinem Worte oder mehreren Wörtern bestehe. Aber durch blosse Aneinanderreihung von Wörtern in der Form wie jedes isolirt ausgesprochen werden würde, entsteht noch kein verständlicher, eindeutiger Satz mit bestimmtem Inhalt. Diesen empfängt die Wortreihe erst dadurch dass die ‘Wörter’ in einer für jeden einzelnen Satz ganz bestimmten Weise zusammengefügt, d.h. durch ganz bestimmte Abstufung nach Stärke, Tonhöhe, Dauer, ferner nach Stimmqualität u. ä. zu einer phonetischen Einheit zusammengeschlossen werden.

614. Die Schrift, welche alle diese für das Verständniss nothwendigen Bindungsmittel gar nicht oder in ganz unvollkommener Weise zu bezeichnen vermag, lässt daher meist ganz verschiedene ‘Sätze’ die aus denselben ‘Wörtern’ aufgebaut sind, unterschiedslos in ein und derselben Wortreihe zusammenfallen. Eine solche Wortreihe ist daher stets vieldeutig und nie einem wirklichen Satze der gesprochenen Rede gleichzustellen: der Sinn muss erst durch Interpretation gefunden werden. So enthält die Wortreihe er hat das Buch, je nachdem man das eine oder andere Wort stärker ‘betont’, die vier inhaltlich ganz verschiedenen Aussagen ér hat das Buch, er hát das Buch, er hat dás Buch, er hat das Búch, und selbst diese Viertheilung genügt noch nicht, um wirklich eindeutige Sätze zu schaffen. Durch Aenderung der musikalischen Betonung, der Stimmlage, der Stimmqualität können jene vier Aeusserungen abermals mannigfaltig zerlegt werden. Jene vier Wörter können also z. B. enthalten vier einfache Aussagesätze

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/250&oldid=- (Version vom 6.7.2023)