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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

610.611. Der Wort- und Satzaccent im Algemeinen 229


610. Die Bestimmung dessen, was in dem Worte oder dem Satze hervorgehoben ist oder werden soll und wie dies im einzelnen Falle geschieht, fällt aus dem Gebiet der Phonetik heraus und der beschreibenden Grammatik bez. Rhetorik anheim. Die Grammatik hat z. B. zu bestimmen, welche Silbe eines Wortes etwa die ‘Tonsilbe’ (d. h. die am meisten hervorgehobene) ist oder welche Silben einen ‘Nebenaccent’ (d.h. eine weniger ausgeprägte Hervorhebung) erhalten. Sie lehrt ferner, welche Wortclassen etwa im Satze ihren ‘selbständigen Accent’ (d.h. eine eigene merkbare Hervorhebung) verlieren (vgl. die Lehre von den Encliticis und Procliticis, die von der Betonung des Verbum finitum im Sanskrit), sie hat sich mit der Modulation des ganzen Satzes und der verschiedenen Satzarten im Einzelnen zu beschäftigen, und dgl. mehr. Die Rhetorik aber lehrt dem Wechsel des begrifflichen Gewichtes, welches die einzelnen Wörter im Satze haben können, jedesmal den richtigen Ausdruck zu verleihen, sei es dass sie an den Verstand des Hörers appellirt oder dass sie sich mehr den Ausdruck der Gemüthsbewegungen und Affecte angelegen sein lässt. Die Phonetik hat es einerseits nur mit den allgemeinen Mitteln der Charakterisirung (d. h. der Lehre von den allgemeinen phonetischen Eigenschaften des Satzes und von seiner phonetischen Gliederung) zu thun, andererseits hat sie den allgemeinen Tendenzen in der Anwendung dieser Mittel nachzuspüren, die sich etwa unabhängig von grammatisch-rhetorischen Einzelbestimmungen in den Sprachen beobachten lassen. Ehe wir jedoch auf diese Fragen eingehen können, sind zunächst noch einige Erörterungen über das Verhältniss von Satz und Wort einzuschalten.

611. Satz und Wort[1]. Unter einem Satz wollen wir hier eine jede selbständige gesprochene Aeusserung verstehen, d. h. eine jede in sich geschlossene Lautmasse, die in einem gegebenen Zusammenhang, sei es der Rede, sei es der Situation überhaupt, einen bestimmten Sinn (Gedanken oder Stimmung) zum Ausdruck bringen soll und in diesem bestimmten Sinn von dem Hörer verstanden wird.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/249&oldid=- (Version vom 6.7.2023)
  1. Vgl. hierzu und zum folgenden namentlich die Abhandlung von Sweet, Words, Logic and Grammar, in den Transactions of the Philol. Society, London 1875—76, S. 470-503.