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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

226 604—608. Der musikalische oder tonische Silbenaccent.


Accenten trifft der zweite Ton sehr oft einen oder mehrere Con- sonanten, die auf den Sonanten der Silbe folgen. Fast Alles was oben 583 über die Vertheilung der einzelnen Glieder der Silbe auf die Druckstösse zweigipfliger Silben dargelegt worden ist, trifft mutatis mutandis auch auf die zweitönigen Silben zu.

604. Für den Gesammteffect der verschiedenen Silbentöne ist die Grösse der Tonbewegung, d.h. das beim Steigen oder Fallen durchlaufene Intervall sehr wesentlich. So gibt ein bei allen Silben eines Satzes gleichmässig durchgeführtes Steigen durch das Intervall etwa eines halben Tlones der Sprache etwas Klagendes, Weinerliches; das Steigen durch ein etwas grösseres Intervall, etwa eine Secunde(?), drückt eine einfache Frage, ein noch stärkeres Steigen, durch etwa eine Sexte, Erstaunen aus, u. dgl. mehr (Sweet S. 95).

605. Für die Doppeltöne muss nächstdem auch noch die Grösse des Tonschritts, d.h. das Intervall zwischen den beiden gebundenen Tönen, bestimmt werden. Hierfür lassen sich bestimmte Regeln nicht geben. Noreen a. a. O. unter- scheidet beispielsweise in der Mundart von Fryksdal einen “eigentlichen Circumflex’ aus Quinte + Grundton, einen ‘nie- drigen Circumflex’ aus Grundton + Terz, und den “hohen Circumflex’ aus der übermässigen Quarte + Quinte.

606. Als Namen für alle doppeltönigen Silbenaccente gebraucht man jetzt am häufigsten wohl den Ausdruck Circumflex (obwohl das Wort als Uebersetzung des griech. περιστωμέη ursprünglich nur einen bestimmten zweitönigen Accent, nämlich wohl ʌ mit bestimmtem Intervall, bezeichnete), oder auch geschliffener bez. geschleifter Accent, im Anschluss an eine zuerst von Kurschat für das Litauische aufgestellte Terminologie.

607. Der litauische ‘geschliffene Accent’ Kurschat’s soll allerdings nach den Untersuchungen von Masing, Serb.-chorw. Accent S. 46 ff. in tonischer Beziehung als ein einfach steigender Accent aufzufassen sein. Aber in exspiratorischer Beziehung scheinen mir die litauischen ‘geschliffenen Silben’ trotz des Einspruchs von Masing noch immer zweigipflig, und zweigipflige Silben mit einfach steigendem oder fallendem Ton sind wohl mehr als problematisch.

608. Auch der dänische ‘Stosston’ (585 ff.) gehört nach den Angaben von Verner, Anz. f. deutsches Alterth. VII (1880) 6 f. in musikalischer Be- ziehung zu den zweitönigen Accenten: “Beim Articuliren des Wortes maler “mahlt’ setzt die Stimme auf der mit exspiratorischem Drucke versehenen ersten Silbe in tiefem Tone an, — ... mindestens einen Ton unter der Schlusssilbe des [nicht gestossenen] Accents nr. 2 [zweisilbiger Wörter] —,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/247&oldid=- (Version vom 17.1.2023)