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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

226 602. 603. Der musikalische oder tonische Silbenaccent.


oder doppelt fallender Ton, bei dem die Silbe zwei steigende oder zwei fallende Töne enthält, lässt sich zwar bilden, ist mir aber nicht aus der Erfahrung bekannt. Im Allgemeinen scheint es eben üblich zu sein, bei der Vereinigung zweier Töne in einer Silbe dieselben in entgegengesetzter Richtung sich verändern zu lassen, damit der Grenzpunkt beider deutlicher hervortrete.

602. Am feinsten sind die tonischen Silbenaccente in Sprachen wie dem Chinesischen ausgebildet, in denen die Bedeutung derselben Silbe je nach dem tonischen Accent, mit dem sie ausgesprochen wird, eine sehr verschiedene sein kann. Aber auch in uns näher liegenden Sprachen finden sich zum Theil gut ausgebildete Systeme des tonischen Silbenaccents vor. Als Beispiele nenne ich das Serbische und Litauische (vgl. Masing, die Hauptformen des serbisch-chorwatischen Accents, Petersburg 1876) und das Schwedische (vgl. z. B. die in der Bibliographie eitirten Arbeiten von Noreen, Kock etc.). Zweitönige Silbenaccente finden sich überhaupt in den als ‘singend’ bezeichneten Mundarten, gewöhnlich Hand in Hand gehend mit zweigipfliger Exspiration (582). In andern Sprachen aber, wie der deutschen und englischen höheren Verkehrssprache, dienen die verschiedenen tonischen Silbenaccente hauptsächlich mit zur Charakterisirung der verschiedenen Satzarten (vgl. darüber Cap. 33). Daher lassen sie sich in solchen Sprachen am besten bei isolirten Monosyllabis beobachten, welche begrifflich einen ganzen Satz vertreten. So haben wir den ebenen Ton in dem (oft etwas gedehnten) nachdenklichen, halb unentschiedenen ja, so (‘ja, wenn das so gemeint ist’, ‘ja, ich weiss eigentlich nicht . . .’ u. dgl.), ähnlich auch engl. well. Den fallenden Ton haben wir im einfach bejahenden ja, den steigenden im fragenden ja?, so?, nun? (vgl. wieder engl. well, let’s go then und well, are you ready?). Den fallend-steigenden Ton findet Sweet auf der Silbe care in dem warnend gesprochenen take care, den steigend-fallenden in dem ironischen oh!, oh really! Aehnliches kann man auch für diese Fälle im Deutschen beobachten, vergleiche etwa das ironische so mit ʌ und das zornige so mit v, u. ä. mehr.

603. Bezüglich der Vertheilung der Tonhöhe auf die einzelnen Glieder der Silbe ist zu bemerken, dass das Steigen und Fallen keineswegs auf den Sonanten der Silbe beschränkt ist, sondern sich auf alle stimmhaften Laute der Silbe erstreckt. Beim fragenden soll er steigt die Stimme vom o bis zum Ende des l und ebenso vom e bis zum Ende des r. Bei zweitönigen

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/246&oldid=- (Version vom 17.1.2023)