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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

592—594. Die Druckabstufung des Silbenschlusses. 223


oder die silbenschliessenden Consonanten, die daher kräftig beginnen, aber mehr oder weniger abrupt endigen; bei den langvocaligen (wōl, kām, lās, rāt, hōlt etc.) erfolgt die Umstellung der Organe für den Consonanten, nachdem der Sonant bereits deutlich geschwächt ist (also eine merkbare Zeit nachdem der Silbengipfel passirt ist); der Consonant setzt daher auch mit nur mässiger Stärke ein, kann aber bei dem langsamern Decrescendo der Silbe deutlich und bequem ausklingen (vgl. kămm: kām u. dgl.).

592. Wir wollen die erstere Art des Silbenschlusses (mit Benutzung eines von Kudelka eingeführten Ausdrucks) als den stark geschnittenen, die zweite Art als den schwach geschnittenen Silbenaccent bezeichnen, und den ersteren durch ‘, den zweiten durch ‘ über dem Sonanten andeuten: also dắ: dā̀, fól: wṑl, sólt: hṑlt u. dgl.

593. Der stark geschnittene Accent hat im Bühnendeutschen seine Stelle in den meisten betonten Silben mit kurzem Vocal; bei langen Vocalen ist er im Deutschen seltener, weil es nicht üblich ist, den Vocal in voller Stärke längere Zeit auszuhalten; doch findet er sich öfter z. B. auch bei langen Vocalen vor folgender (Schrift-)geminata, also etwa bei deutlicher Aussprache in Combinationen wie noth thun (nṓt-tū̀n oder nṓ-tū̀n) im Gegensatz zu so thun mit nachdrücklichem so (sṓ-tū̀n); in rascherer Rede spricht man auch hier indess gewöhnlicher nṑ-tū̀n, ganz wie sṑ-tū̀n.

594. Der schwach geschnittene Accent ist den meister unserer langen betonten Vocale und den Vocalen unbetonter Silben eigen: wir sprechen also dā̀, kā̀m, wṑl, rā̀t wie hā̀-bᵊ, šlā̀-fᵊ, hṑl-tᵊ und bə̀-fin-dᵊ, fi-láext (vielleicht), là-táen (Latein) u.dgl.; vgl. auch Parallelen wie gànz néu (mit betontem neu) und gánz neu (mit betontem ganz). Bei kurzen starktonigen Vocalen pflegt er uns Schwierigkeiten zu machen, doch ist er mundartlich auch bei diesen verbreitet, vgl. z. B. schweiz. lĕ̀-sᵊ, gĕ̀-bᵊ u. dgl., oder sonst gelegentlich dialektisches hàlm, hàl-tn u. dgl. gegenüber bühnendeutschem hálm, hál-tn u.a. Man erreicht ihn in diesem Falle am leichtesten, wenn man überhaupt die Druckstärke des Vocals von vornherein gering nimmt, oder indem man den Vocal ein klein wenig dehnt, damit sich in seinem Verlauf die Druckstärke auf das nöthige Mass verringern kann.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/243&oldid=- (Version vom 19.7.2022)