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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

571—574. Accent und Quantität. 217


die von Tonhöhen unterschieden hergeleitet sind, zur Bezeichnung von Stärkeunterschieden verwendet werden.

571. Beide Gebrauchsweisen des Wortes ‘Accent’ sind einseitig. Die antike Nomenclatur und Theorie ignorirt die Stärkeabstufungen, die landläufige moderne dagegen die Abstufungen der Tonhöhen. Beide Arten von Abstufung gehen aber in allen Sprachen neben einander her: es gibt weder Sprachen ohne Stärkeunterschiede noch Sprachen ohne Tonhöhenunterschiede; nur sind die einen in dieser, die andern in jener Sprache schärfer ausgeprägt und haben desshalb auch in der grammatischen Theorie zuerst Beachtung gefunden. Erst die neuere Phonetik hat hier, zumal durch die Arbeiten der englischen und skandinavischen Forscher, Licht und Ordnung gebracht.

572. Sofern wir nun unter der Lehre vom Accent die Lehre von der Abstufung der einzelnen Satzglieder nach Stärke und Tonhöhe verstehen, zerlegt sich dieselbe zunächst in die beiden grossen Gebiete der Lehre vom exspiratorischen oder dynamischen Accent, der es mit den Stärkeabstufungen zu thun hat, und der Lehre vom musikalischen oder tonischen Accent, der die wechselnden Tonhöhenverhältnisse zufallen.

573. Innerhalb dieser Gebiete ist sodann weiter danach zu scheiden, in welchem sprachlichen Gebilde die betreffende Accenterscheinung auftritt, ob sie sich in der einzelnen Silbe abspielt oder in der durch den Sinn zusammengehaltenen Silbenreihe, d. h. dem Worte (bez. dem Sprechtakt) oder dem ganzen Satze. Wir haben danach die Lehre vom Silbenaccent zu scheiden von der Lehre vom Wort- und Satzaccent. Dabei ist von vornherein zu beachten, dass Wortund Satzbildung vom phonetischen Standpunkt aus kaum, wenn überhaupt, zu trennen sind.

574. Ohne genaue Beachtung dieser Unterschiede ist ein wirkliches Verständniss des ‘Accents’ unmöglich, gerade mit Rücksicht auf die irreleitende landläufige Terminologie. Namentlich ist auch darauf zu dringen, dass die verschiedenen Arten der Accentuirung auch graphisch genauer unterschieden werden als das in den überlieferten Accentuationssystemen z. B. des Sanskrit und des Griechischen nebst den an das letztere sich anschliessenden Systemen der modernen Sprachen der Fall ist.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/237&oldid=- (Version vom 16.7.2022)