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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

4. 5. Stellung, Aufgabe und Methode der Phonetik 3


Schwerpunkt des Interesses, welches die Sprachforschung an der Phonetik nimmt, liegt doch auf einer andern Seite. Dem Sprachhistoriker soll die Phonetik in erster Linie Aufklärung verschaffen über die Natur, den Verlauf und die Zusammenhänge der verschiedenen lautlichen Processe, deren Anfang und Endpunkt er durch geschichtliche Betrachtung der Sprache festgestellt hat. Sie kann dies thun, indem sie ihm in dem Nebeneinander der lebenden Sprachen und Mundarten Reihen von Entwicklungsstufen aufweist, die ihn zu bündigen Analogieschlüssen über den Entwicklungsgang der Einzelsprache führen, und indem sie ihm, abermals an der Hand der lebenden Sprache, das Verhältniss zwischen der den sprachlichen Wandel bedingenden Kraft und der daraus im Einzelfalle resultirenden Veränderung gewissermassen paradigmatisch darstellt. Der Sprachhistoriker bedarf daher in minderem Masse als der Neuphilologe detaillirter Einzelvorschriften über die Aussprache dieses oder jenes Idioms, und in noch geringerem Masse der Aufstellung eines allgemeinen Systems, in dem die Einzellaute der verschiedenen Sprachen nach einem bestimmten Schema ein- für allemal untergebracht sind. Ja, man kann geradezu sagen, dass, während für den phonetischen Theoretiker sein System und die daraus fliessende strenge Scheidung der einzelnen Lautgruppen und Laute im Mittelpunkte des Interesses stehen, der den geschichtlich bezeugten Wandlungen und Verschiebungen eben dieser Gebilde nachgehende Sprachhistoriker am meisten Nutzen ziehen wird aus einer systematischen Betrachtung gerade der Berührungspunkte zwischen den einzelnen‚ Unterabtheilungen, welche der Systematiker aufstellt und nach Kräften aus einander zu halten sucht.

5. Den Bedürfnissen aller der vorgenannten Interessenkreise gleichmässig gerecht zu werden, wird keine Einzel darstellung der Phonetik im Stande sein. Dem Phonetiker naturwissenschaftlicher Richtung wird das sprachliche Einzelmaterial, dessen der Philologe und Linguist bedarf, kaum je in vollem Umfange zugänglich sein. Zudem entbehrt es für ihn des Interesses, da auch die grösste Häufung des Materials ihm keine wesentliche Unterstützung bei der Ableitung der allgemeinen Sätze über Sprachbildung bieten kann, nach der er strebt. Noch ferner liegen ihm die entwicklungsgeschichtlichen Probleme des Sprachhistorikers. Wiederum werden die wenigsten Vertreter der philologischen Seite dem Naturwissenschafter in die Details seiner anatomischen, physiologischen und

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/23&oldid=- (Version vom 23.5.2022)