Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/206

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

186 484—486. Palatalisirung.


handelt, und nicht nur um die blossen Ansätze zu Palatalisirungen, die bloss durch Gleitbewegungen zur Palatalstellung hin (470) hervorgebracht werden. Aehnliches gilt auch von der Rundung (unten 491 ff.).

484. Als Beispiele palatalisirter Consonanten können namentlich die Consonanten vieler slavischen Sprachen vor (ursprünglichen) i, j dienen, z. B. russ. лить lit́, ниткто ńikto, poln. ń, ś; aus dem Gebiet der romanischen Sprachen fallen hierher das franz. gn (322), ital. gl, gn, span. ll, ñ, portug. lh, nh (deren Palatalisirung ich früher fälschlich bezweifelte, vgl. Storm² S. 76); unter den deutschen Mundarten sind namentlich die siebenbürgischen reich an palatalisirten Lauten.

485. Was die Einwirkung der Palatalisirung auf die specifischen Articulationen der betroffenen Laute betrifft, so findet nach 475 bei Labialen eine Störung derselben nicht statt, da hier die specifische Articulation durch die Lippen, die Palatalisirung durch die Zunge ausgeführt wird; ein gleiches gilt von den Faucalen. Bei allen Zungengaumenlauten aber muss ein Compromiss zwischen den beiden sich kreuzenden Articulationen eintreten. Bei Lauten, deren Zungenarticulation der der palatalen Vocale conträr ist, involvirt derselbe oft geradezu eine Verlegung der Articulationsstelle. So sind z. B. die eigentlichen Velare (163) der Palatalisirung nicht direct fähig, weil bei ihnen die Hinterzunge so nach hinten und oben gezogen ist, dass die Vorderzunge die erforderliche Palatalstellung nicht mehr einnehmen kann. Soll also deutlich und ohne Gleitbewegung während der Dauer des Lauts (470) palatalisirt werden, so wird die Articulationstelle selbst vom weichen zum harten Gaumen vorgeschoben, d.h. an die Stelle des eigentlichen Velars tritt ein Palatal (161). Von den sog. Dentalen widerstreben die Cerebralen und Coronalalveolaren einigermassen der Palatalisirung; dagegen sind die Dorsalen ganz besonders dafür geeignet (so namentlich auch das dorsale helle l, 314). Uebrigens ergeben sich die einzelnen Abweichungen der Articulation palatalisirter Consonanten von der der indifferenten leicht durch einfaches Probiren.

486. Die Palatalisirung kann verschiedene Grade aufweisen, je nach der Zungenhöhe des die Palatalisirung bewirkenden Vocals: je höher der Vocal, um so mehr wird auch die dorsal gewölbte Zunge dem Gaumen genähert und um so deutlicher wird der Palatalklang. Die Anpassung an die i- oder -Stellung erzeugt daher die stärksten Grade von Palatalisirung.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/206&oldid=- (Version vom 17.6.2022)