Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/186

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

166 422. Halbvocale.


Langdiphthonge zu bezeichnen. Langen zweiten Componenten neben kurzem ersten haben z.B. die schwäb. ei, ou = mhd. î, û, u. dgl. Genaueres s. unten unter Quantität’, Cap. 34 f.

b. Halbvocale.

422. Unter dem mehr in der sprachwissenschaftlichen als in der phonetischen Literatur üblichen Namen Halbvocale sind lediglich unsilbisch verwendete Vocale zu verstehen; man sagt daher auch z. B., die fallenden Diphthonge wie ai̯, au̯ etc. bestehen aus dem ‘Vocal’ a und den ‘Halbvocalen’ bez. , die steigenden Diphthonge wie ga, wa etc. aus den Halbvocalen’ , und dem ‘Vocal’ a u. s. w. (vgl. 410). Eine feste Praxis der Nomenclatur hat sich aber nicht herausgebildet. Im Anschluss an den Sprachgebrauch der älteren Grammatik der Inder, Griechen und Lateiner pflegt man in der indogerm. Sprachwissenschaft vielmehr die fallenden Diphthonge wie ai̯, au̯ als ‘Diphthonge’ schlechtweg zu bezeichnen, und nur da von ‘Halbvocalen’ zu reden, wo das unsilbische Glied dem silbischen vorausgeht, d. h. bei den steigenden Diphthongen, wie i̯a, u̯a, welche dort traditionell als Verbindungen von selbständigen Consonanten mit Vocalen (als Gruppen von‘Halbvocal + Vocal’) aufgefasst werden, während man die fallenden Diphthonge, wie der Name besagt, als eine Art von Doppellauten betrachtet, Dieser Gebrauch knüpft ziemlich willkürlich an allerlei grammatische und sprachgeschichtliche Erwägungen an, selbst an rein Orthographisches (so werden z. B. in der Schrift des Sanskrit Lautfolgen wie i̯a, u̯a mit Consonantzeichen für das , geschrieben, य, व, nicht mit den sonst üblichen Arten von Vocalzeichen). In der romanischen Philologie werden dagegen Folgen wie franz. ie, oi (d. h. i̯e, u̯²a), ital. uo (d.h. u̯o²), span. ue (d. h. u̯e²) gern als ‘steigende Diphthonge’ benannt, weil sie aus urspr. einfachen Vocalen hervorgehn und in der landläufigen Orthographie mit ‘Vocal’-zeichen geschrieben werden, u. dgl. mehr. Dieser ganze, willkürlich wechselnde Sprachgebrauch hat, wie man sieht, mit dem Wesen der Sache nichts zu thun. Qualitativ sind die unsilbischen ‘Halbvocale’ ebensogut ‘Vocale’ wie die silbischen ‘Vollvocale’, nur haben sie verschiedene Function bei der Silbenbildung, und bei dieser kann es natürlich auf die Reihenfolge, ob z. B. ai̯ oder i̯a, ebenso wenig ankommen wie etwa bei Paaren wie al oder la, ar oder ra u. dgl. Immerhin ist der Name ‘Halbvocal’ nach manchen Richtungen

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/186&oldid=- (Version vom 12.6.2022)