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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

419-421. Diphthonge. 165


einfachen Vocalen hervorgehen) seltener als die ‘echten’ Diphthonge.

419. Eine Reihe genauerer Bestimmungen über wirklich beobachtete Diphthonge und Halbvocale findet sich namentlich in Ellis’ viertem Band und den verschiedenen Analysen von Sweet, besonders auch in dessen Handb. S. 68 ff., sowie bei Lundell 123 ff. Ungemein reich an Diphthongen sind in Deutschland die westfälischen Mundarten; Jellinghaus, Westf. Grammatik, Bremen 1877, S. 23 ff. zählt folgende auf: ai, äi, ǟi, au, äu, ǟü, iu, , ui, eo, ie, ia, ua, uo, , üa, üe.

420. Zur Beurtheilung der Diphthonge ist es sehr wesentlich, den Weg zu verfolgen, den die Zunge beim Uebergang zurücklegt; ob sie z.B. einfach innerhalb einer Verticalreihe der Vocale aufsteigt, wie bei ei oder sich senkt wie bei ie̯, oder ob sie sich vorwärts bewegt, wie bei ui, oder rückwärts wie bei iu, oder ob die Bewegung eine combinirte ist; z.B. steigend und nach vorn bei ai, fallend und nach hinten wie bei ia; auch die Engenbildung an den Lippen ist wichtig. Durch diese beiden Bewegungsmomente und die daraus resultirende Verengung der Ausflussöffnung wird nämlich die natürliche Schallfülle der betreffenden Vocale bedingt, und von dieser hängt wieder die Leichtigkeit ab, mit der sie sich zu einer einsilbigen Verbindung zusammenschliessen lassen. Diphthonge mit steigender Zunge sind am leichtesten einsilbig zu halten, bei horizontaler Bewegung der Zunge bildet Vorschiebung besser einheitliche Diphthonge als Rückziehung (vgl. z. B. a²e̯¹ mit e¹a̯²), am wenigsten eignen sich Verbindungen, bei denen die Zunge sich senken muss, wie ia u. dgl. Für unsilbische Vocale vor silbischen drehen sich diese Regeln natürlich um: ein æ̯i bringt, wie schwach man das æ auch nehmen mag, doch immer den Eindruck eines ia̯ hervor (Sweet S.70), vgl. die schwäbische Aussprache der ei, ou, bei denen oft das zweite Element stark überwiegt. Bei Verbindungen wie ia̯ etc. findet leicht eine Verschiebung des Accentes auf den zweiten, schallvolleren Laut statt, vgl. z. B. die nord. ja, , jo, ju aus ia, iǫ̯, io̯, iu̯; Aehnliches findet sich auch im Bing so wird z.B. ags. ā im Dialekt von Westmoreland durch i̯a aus ia̯ (aus [schott.] æ diphthongirt) vertreten. Im Süden hört man nicht selten i̯æ̇̄ für iæ̯̇ (geschrieben -ere, -ear, -ea etc.), meist mit ganz schwachem, nahezu verschwindendem i-Laut; z.B. i̯æ̇̄ year, ʿi̯æ̇̄ here (ʿi̯ tonlos, spirantisch), auch kl(i̯)æ̇̄ clear, tsæ̇̄fl cheerful,æ²i²d(i̯)æ̇̄ idea u. dgl. habe ich gehört. Dahin gehören wohl auch die von Storm² S. 383 besprochenen Formen wie šæ̇̄ sure, pi̯æ̇̄ pure, mit Ausfall des u (durch ü hindurch?).

421. Endlich ist auch die Quantität beider Componenten frei gegeben, d.h. jeder von ihnen kann alle Stufen vocalischer Länge bis herab zu Null (= Reduction, 504 ff.) durchlaufen. Diphthonge mit kurzem ersten Componenten sind z. B. die gewöhnlichen deutschen ai, au, engl. ai, au in high, now; langen ersten Componenten haben z. B. engl. he, who, desgleichen altgriech. , , , , ηυ, ωυ (neben ᾰι, ει, οι, ᾰυ, ευ, ου) und die sanskr. Vṛddhidiphthonge; solche Diphthonge pflegt man in der indogermanischen Sprachwissenschaft speciell als

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/185&oldid=- (Version vom 12.6.2022)