Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/183

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

416. 417. Diphthonge. 163


längst nicht mehr bestehen. So schreiben wir zwar im Deutschen z. B. Diphthonge wie ai (ei), au, ew (äu), oi noch mit auslautendem i, u, wir sprechen aber als Endlaute thatsächlich meist e-, o- und ö-Laute, also z. B. ae̯¹ (ae̯², æe̯²), ao̯¹ (ao̯², o²o̯¹), o²ø̯¹, ø²ø̯¹, aø̯¹ (vulgo a˚ö etc.) u. dgl., woneben natürlich im Einzelnen noch vielfache Schattirungen in beiden Componenten zu beobachten sind. Aehnlich auch bei steigenden Diphthongen. Auch hier treten keineswegs nur , als Anfangslaute auf, wie es etwa die Schrift vortäuscht, sondern ebensogut auch Laute wie e, o (in Verbindungen wie e̯ā, o̯a), vgl. z. B. den Gegensatz von schwäb. iuꬻ ‘jung’: e̯a ‘ja’ u. dgl.

416. Den wahren End- bez. Anfangslaut richtig herauszuhören oder durch längeres Verharren in seiner specifischen Articulationsstellung deutlicher zu Gehör zu bringen erfordert ziemlich viel Uebung, namentlich bis man gelernt hat sich vollständig von der durch das Schriftbild erweckten und durch die lange Gewohnheit gefestigten Vorstellung zu befreien, als müsse ein i oder u etc. in jenen Lautmassen enthalten sein. Um so sorgfältiger muss man also hier prüfen. Wem es noch an Uebung gebricht, der kann sich durch ein einfaches Experiment von der Richtigkeit des Gesagten überzeugen. Man lege einen Finger (oder auch zwei übereinander) auf die Vorderzunge: man kann dann immer noch vollkommen gute und deutliche Diphthonge von der Art der deutschen ei, ai in der gewöhnlichen mitteldeutschen Aussprache oder das erwähnte schwäb. e̯ā ‘ja’, hervorbringen, nicht aber ein i, das also in jenen Diphthongen nothwendig fehlen muss.

417. Ein allgemeineres Abstandsminimum oder -maximum der Componenten lässt sich nicht angeben. Für Deutschland trifft im Grossen und Ganzen wohl der Satz zu, dass dieselben nicht so weit auseinander liegen als die Vocale, welche die landläufige Schrift als Componenten erscheinen lässt. Doch fehlen auch keineswegs Verbindungen wie ai, au, iu, ui, welche wohl ziemlich auch die Abstandsmaxima darstellen. Nach der Minimalseite zu liegen z. B. die sog. langen Vocale des Englischen (he, who, no, say), welche in Wirklichkeit durchaus diphthongischen Charakter haben, indem bei ihnen gegen den Schluss hin stärkere Verengungen eintreten. So stellt der Laut in he einen Diphthong aus etwas offnerem und etwas geschlossenerem i dar, der in who eine ähnliche Verbindung zweier u (Sweet bezeichnet das zweite Element inconsequent hier mit j und w, schreibt also ij, uw, während er sonst den Endlauten der Diphthonge die Vocalzeichen belässt), no enthält ein ou̯, say ein ei̯ etc. Für die umgekehrte Folge können engl. Beispiele wie ye, wool, wound (gespr. i̯ii̯, u̯u²l, u̯ū¹nd) dienen; hier wird, wie überhaupt da, wo vor einem silbischen Vocal wie i, u

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/183&oldid=- (Version vom 9.6.2022)