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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

162 414. 415. Diphthonge.


auf starke Ausgleichung der Conträrwirkungen von Druckstärke und Schallfülle (bez. Dämpfung) hinzuweisen.

414. Hinsichtlich der Druckvertheilung bei Diphthongen ist noch Folgendes zu bemerken. Steht ein unsilbisch verwendbarer Vocal zwischen zwei andern Vocalen, z. B. in den Lautfolgen aia, aua, so hängt es ganz von der Druckvertheilung ab, ob diese Folgen als ai̯-a, au̯-a oder als a-i̯a, a-u̯a oder endlich als ai̯-i̯a, au̯-u̯a, d.h. als fallender Diphthong + Vocal, oder als Vocal + steigender Diphthong, oder als fallender + steigender Diphthong empfunden werden. Im ersten Fall wird das , noch mit demselben Luftstoss hervorgebracht wie das erste a und schliesst sich mit diesem zu dem Diphthongen ai̯ zusammen (vgl. 520); im zweiten setzt neuer Druck erst mit dem , ein, die demnach zum Folgenden gezogen werden, im dritten Fall liegt eine Druckgrenze (546) innerhalb der zugleich länger ausgehaltenen , , deren erste Hälften also mit dem ersten, deren zweite Hälften mit dem zweiten Luftstoss gebildet werden. Die Uebergänge von einem Vocal zum andern bleiben aber dabei überall gleich, und streng genommen wird sich in jedem Falle die Existenz eines unsilbischen (‘halbvocalischen’, 422) Gleitlauts nachweisen lassen, auch an den Stellen wo er für gewöhnlich nicht besonders wahrgenommen wird. Mit den spirantischen j und w (vgl. 324 ff. 348) sind diese unsilbischen Vocale bez. Gleitlaute ja nicht zu verwechseln.

415. Um die Mundarticulation eines beliebigen Diphthongs (einerlei ob er fallend, steigend oder schwebend gebildet ist) festzulegen, hat man zunächst seine beiden Componenten zu ermitteln, d. h. denjenigen Vocallaut mit dem der Diphthong beginnt, und denjenigen mit dem er schliesst: der Gleitlaut zwischen Anfangs- und Endvocal bez. Anfangs- und Endstellung ergibt sich dann ziemlich von selbst, da der Uebergang auf dem kürzesten Wege erfolgt. Der Ermittelung der Componenten stellen sich aber oft ziemlich grosse subjective Schwierigkeiten entgegen. Einerseits täuscht leicht die Contrastwirkung der beiden Nachbarlaute über ihren wahren Charakter, andrerseits treten in den Diphthongen oft Vocallaute auf, die in den betreffenden Sprachen als isolirte Vocale nicht vorkommen und daher um so leichter falsch eingeschätzt werden. Endlich geben auch die herkömmlichen Orthographiesysteme leicht Anlass zu Irrungen: die Schrift ist gerade hier sehr oft hinter der Entwicklung der gesprochenen Sprache zurückgeblieben, und hat daher Aussprachszustände fixirt, die

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/182&oldid=- (Version vom 9.6.2022)