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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

411—413. Diphthonge. 161



411. Sweet definirt die Diphthonge als Verbindungen von Vocal + glide, indem er als Grundform etwa des ai annimmt, dass der Diphthong abgebrochen werde, sobald die Stellung für den Endlaut erreicht ist, ohne dass dieser selbst eine messbare Zeit hindurch angehalten wird. Er gibt aber zu, dass der glide auch zum vollen Vocal gemacht werden könne, ohne dass der diphthongische Charakter der Verbindung verloren geht. Man kann deswegen ebensogut oder besser auch vom vollen Vocal ausgehn und Sweet’s Grundform als durch Reduction (504 ff.) entstanden betrachten. Für alle Fälle genügt die oben gegebene Definition, welche Einsilbigkeit der Gruppe und für ihre beiden Glieder den Gegensatz von Sonant und Consonant fordert.

412. Die beiden Glieder eines Diphthongs pflegen nicht mit gleicher Druckstärke gesprochen zu werden, vielmehr nımmt die Druckstärke von dem silbischen Glied zu dem unsilbischen hin in der Regel ab, und umgekehrt. Diphthonge mit abnehmender Druckstärke, wie beispielsweise deutsches a, au, bezeichnet man als fallende, solche mit zunehmender Druckstärke, wie etwa ia, wa, als steigende Diphthonge. Seltener erscheinen daneben nach den Beobachtungen einiger Phonetiker (s. namentlich Storm² S. 85f.) auch Diphthonge mit wesentlich gleich bleibender Druckstärke, sog. schwebende Diphthonge. Storm findet solche z. B. (nach V. Thomsen) im färöischen ea, wie in meavür ‘Mann’, ferner in norwegischen Dialekten und sonst. Auch deutsche Mundarten scheinen Aehnliches aufzuweisen.

413. Ueber die eigentliche Natur dieser sog. schwebenden Diphthonge ist es nicht ganz leicht in's Reine zu kommen. Nach den von Storm a. a. O. gegebenen Beispielen scheint es sich wesentlich um sog. unechte Diphthonge (418) zu handeln, bei denen das unsilbische Glied wegen seiner grösseren Schallfülle (518) stärker in’s Ohr fällt und so den Eindruck hervorruft, als stehe es dem silbischen Glied auch an Druckstärke gleich oder doch ganz nahe. Andrerseits ist nicht zu verkennen, dass thatsächlich bei den Diphthongen der Wechsel der Druckstärke sehr verschieden stark sein kann. Im Deutschen macht sich z. B. das starke und rasche Absinken der Druckstärke bei den fallenden Diphthongen unter anderem sehr gewöhnlich auch dadurch bemerklich, dass das unsilbische Schlussglied nicht mehr mit Vollstimme, sondern nur noch mit (kräftigerer oder schwächerer) Murmelstimme gesprochen wird, was wiederum anderwärts mindestens nicht in gleichem Umfang der Fall zu sein scheint. Jedenfalls dürfte es sich bei dem Gegensatz zwischen schwebenden Diphthongen einerseits und den gewöhnlichen fallenden und steigenden Diphthongen andrerseits nur um einen graduellen Unterschied und nicht um einen eigentlichen Wesensgegensatz handeln: gibt doch selbst Storm zu, dass bei jenen der ‘Nachdruck’ bald auf den ersten, bald auf dem zweiten Vocal zu liegen scheine (obwohl er in Wirklichkeit nach seiner Meinung gleichmässig über beiden schweben soll. Gerade dies Schwanken in der Auffassung der ‘schwebenden’ Diphthonge scheint eben

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/181&oldid=- (Version vom 9.6.2022)