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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

132 338. 339. Die Spiranten: Die š-Laute.


Species der s stets durch eine dumpfere Kesselresonanz zu unterscheiden (mit dieser Resonanz schwindet daher viel von dem specifischen Klangeharakter des š bei Personen, denen die untern Schneidezähne fehlen. Man beachte auch, dass z. B. die cerebralen , bei denen ein ähnlicher Kesselraum gebildet wird, einen š-ähnlicheren Klang haben). Die Lippenarticulation hilft diese Kesselbildung nur vervollständigen und modifieiren. Aehnlich sagt auch Storm² S. 72: ‘Wenn ich nur die Zungenspitze hebe, so entsteht nur supradentales s; erst wenn ich zugleich einen Theil des Zungenrückens ins Niveau bringe, entsteht š, indem sich hinter dem Gaumendach ein gewölbter Raum bildet, der einen tieferen Eigenton und ein mehr zusammengesetztes Geräusch hervorbringt.’

338. Brücke erklärte dagegen das ihm geläufige alveolare š für einen ‘zusammengesetzten Consonanten’, weil seine Articulation nicht einfach sei, sondern weil das š die ‘Engenbildung eines alveolaren s mit der des gutturalen verbinde’. Abgesehen davon, dass die doppelte Engenbildung durch Brücke keineswegs ausser Zweifel gestellt ist (vgl. Merkel, Laletik 102 ff., Grützner 222) ist doch der Laut š durchaus einheitlich und hat nicht mehr Anspruch auf den Namen ‘zusammengesetzt’, als z. B. alle palatalisirten oder gerundeten Laute, welche durch gleichzeitige Wirkung verschiedener Articulationen des Ansatzrohrs erzeugt werden. — Sweet S.39 beschreibt im Anschluss an Bell das š folgendermassen: ‘Das š ist dem s sehr ähnlich, hat aber mehr von dem point-element (d. h. stärkere Betheiligung des Zungensaums); dies hat seinen Grund in der Annäherung an stimmloses r; das š ist in der That ein s, das auf dem Wege zu stimmlosem r angehalten ist. Dies geschieht, indem man die Zunge aus der s-Lage ein wenig zurückzieht und mehr nach oben wendet, was den Zungensaum mehr in Action bringt.’ Ich halte auch diese Beschreibung nebst den weiteren Angaben Sweet’s noch nicht für hinlänglich sicher oder geeignet eine deutliche Vorstellung von dem š-Mechanismus zu geben.

339. Varietäten des š ergeben sich namentlich noch durch die verschiedenen Stellungen der Zungenspitze und die Wölbung verschiedener Theile der Zungenfläche. Gewöhnlich sind die š wohl supradental, d. h. auch die Zungenspitze ist bis zu den Alveolen gehoben. Doch kommen auch š mit gesenkter Zungenspitze vor, z. B. in Mittel- und Süddeutschland und, wie mir scheint, auch wohl in den palatalen oder mouillirten š́-Lauten der slavischen Sprachen. Beim poln. š (auch in russ. чь, poln. ć) und dem damit von Storm² S.72 gleichgesetzten norw. sk, sj in skilling, sjæl ist der mittlere Zungenrücken gehoben. Halbpalatale š sind fast überall die deutschen š vor Consonanten, die aus einfachem altdeutschen s hervorgegangen sind, wie in stehn, sprechen, schlagen, schneiden, schwer, gespr.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/152&oldid=- (Version vom 3.6.2022)