Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/149

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

330—333. Die Spiranten: Coronale Zischlaute. 129


unter Umständen der Zwischenraum so erweitert, dass das Reibungsgeräusch ganz verloren geht. Die zweite Art ist ein ‘inneres th’, bei welchem keine directe Berührung der Zähne stattfindet, sondern die Zunge bloss den Alveolen unmittelbar hinter der obern Grenze der Zähne genähert ist. Natürlich sind aber wieder noch mehrere Unterabstufungen möglich® Eın mittleres postdentales d mit sehr weiter Oefinung ist z. B. das span. d wenigstens in der chilenischen Aussprache. Stimmlos erscheint dasselbe für s + d, z.B. laθoθientes für las dos dientes (über das span. d s. Storm² 8.154. ¹ S.426).

330. Man kann das θ auch ‘divided’ und einseitig bilden. Die Engen liegen dann entweder beidseitig oder einseitig an den Eckzähnen. Dieser Laut scheint als Vertreter des s in Deutschland nicht ganz selten zu sein. Ich glaube ihn öfter von Berlinern sowie im Judendeutsch gehört zu haben, bin aber nicht sicher, ob er nicht vielmehr mit dem Zungenblatt gebildet wird. Vom engl. th unterscheidet er sich durch stärkeres Zischen, vielleicht weil die Lippen mit angeblasen werden oder doch die Luft sich in dem kleinen Hohlraum zwischen Zähnen und Lippen fängt.

331. Bei dem interstitiellen θ — welches natürlich nur von Personen mit auseinanderstehenden Oberzähnen gebildet werden kann — findet auch oft ein Anblasen der Oberlippe statt. Ich habe früher geglaubt, dass die- ses Anblasen dem # überhaupt erst seine eigentliche Hörbarkeit verleihe (wie beim f, v), habe mich aber überzeugt, dass dasselbe nur etwas Secundäres ist.

332. Der Articulation nach stehen diese Spiranten den labiodentalen f, v nahe, daher auch der häufige Uebertritt derselben in die letztere Classe. Es bedarf dazu nur eines geringen Hebens und Einwärtsbiegens der Unterlippe, um diese mit den Oberzähnen in Berührung zu bringen, d. h. sie an der Bildung der Enge für das Blasegeräusch theilnehmen zu lassen. Durch Rückkehr der beim θ, ð articulirenden Zunge zur Ruhelage ist dann der vollständige Uebergang zu f, v vollzogen.

333. Geht man mit dem Zungensaum noch mehr in die Höhe, sodass die Enge an den Alveolen gebildet wird, so entsteht das stimmlose Alveolar-r des Englischen nebst seinen stimmhaften Nebenformen mit und ohne Reibungsgeräusch (stimmhaftem spirantischem und sonorem r), bei noch stärkerer Hebung und Zurückbiegung der Zunge das stimmlose Cerebral-r, die man herkömmlicher Weise nicht zu den Zischlauten zu rechnen pflegt. Einen stimmlosen alveolaren Zischlaut dieser Art, über dessen Analyse ich aber nicht völlig sicher bin, glaube ich in der irischen Aussprache von t nach Vocalen,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/149&oldid=- (Version vom 3.6.2022)