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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

324—326. Die Spiranten: 1. Labiale. 127


B. Die Geräuschlanute.
Cap. 14. Die Spiranten.
1. Labiale und Labiodentale.

324. Rein labiale Spiranten sind im ganzen selten. Den bilabialen Verschlusslauten (348) entsprechen grossentheils labiodentale Spiranten, so dem p das f, dem stimmhaften b das v, wie es in Norddeutschland, ferner in den romanischen Sprachen und im Englischen ausgesprochen wird. Bilabiales f ist mir nur bei vereinzelten Individuen vorgekommen, während bilabiales w (oft, wie auch v, reducirt gesprochen, 505) in einem grossen Theile von Mittel- und Süddeutschland herrscht. In Tirol habe ich auch ein bilabiales w beobachtet, das nach englischer Terminologie divided (312) gebildet wird, d. h. mit Verschluss der Lippen in der Mitte und mit zwei seitlichen Ausflussöffnungen. Doch scheint diese Bildungsart nicht für alle Individuen gut möglich zu sein. Es kommt bei dem mittleren Lippenschluss viel auf die Gestalt der Lippen des einzelnen Individuums an (leichter gelingt er bei stärkerer Ausdehnung der Lippenspalte, so z. B. wenn man mit lächelndem Munde spricht). Auch das span. b scheint, wenigstens zum Theil, mit Mittelschluss gebildet zu werden (vgl. dazu Storm² S.154. ¹ S.434).

325. Da die meisten modernen f und v der indogermanischen Sprachen aus bilabialen Verschlusslauten hervorgegangen sind, so müssen wohl bilabiale f und w als deren Vorstufen in grösserem Umfange angesetzt werden. Der Grund für die fast vollständige Aufgabe des bilabialen f mag in dessen geringer Lautstärke liegen, die es zu leicht unvernehmlich werden liess. Beim labiodentalen f und v» rührt die grössere Schärfe des Lautes von dem Anblasen der Oberlippe vermittelst des zwischen Unterlippe und Oberzähnen hervorgetriebenen Luftstroms her (man erkennt das leicht, wenn man während der Bildung eines f, v die Oberlippe mit dem Finger in die Höhe hebt). Beim w, dessen Stimmhaftigkeit den Laut vor der Unvernehmlichkeit etwas schützt, war eine derartige Verschärfung des Blasegeräusches nicht so nothwendig.

326. Die beiden stimmhaften Spiranten dieser Reihe, v und w, sind streng von dem ‘Halbvocal’ getrennt zu halten, über den unten 410 ff. 422 zu vergleichen ist. Auch das

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/147&oldid=- (Version vom 3.6.2022)