Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/143

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

313—315. Die Liquidae: 2. Die l-Laute. 123


wir erhalten so asymmetrische oder einseitige l (ein rechtes und ein linkes).

313. In der Menge der so erzeugten Laute sind ebensoviele Species zu unterscheiden als wir oben 154 ff. Articulationen der Vorderzunge aufgestellt haben: also cerebrale, palatale, alveolare, postdentale und interdentale (mit den Unterabtheilungen von Lauten coronaler oder dorsaler Articulation). Cerebrale finden sich wieder im Sanskrit und den neuindischen Sprachen, palatale in den ital. gl, span. ll, port. lh (vgl. 484), alveolare im Englischen und Norddeutschen u. s. w.

314. Die Unterschiede der Klangfarbe dieser Species sind nicht sehr bedeutend. Allenfalls treten die cerebralen den drei übrigen Arten gegenüber. Dagegen wechselt der Klang des l sehr stark je nach dem Verhalten des Zungenkörpers und der Grösse der dadurch bedingten Ausflussöffnungen. Der dunkelste l-Laut entsteht, indem man nur die Zungenspitze zum Abschlusse verwendet, d. h. den vordern Zungenkörper im Uebrigen möglichst senkt und vom Gaumen entfernt hält, und dadurch zugleich jene Oeffnungen zu ziemlich langen Spalten ausdehnt. So wird im Vordermunde ein grosser Hohlraum tiefer Resonanz geschaffen, der dem l seinen eigenthümlichen ‘dunklen’ Klang verleiht. Der Klang wird immer heller, je mehr man den vordern Theil des Zungenkörpers hebt und dadurch den Resonanzraum und die Ausflussöffnungen verkleinert. Unser gewöhnliches deutsches l steht etwa in der Mitte, doch weichen auch die deutschen Mundarten vielfach nach der einen oder andern Seite ab; als Beispiel des ‘hellen’ l mag das slavische ‘mouillirte’ l genannt werden.

315. Die meisten Phonetiker setzen seit Purkinje auch ein gutturales, genauer velares l an und finden dies in dem ‘harten’ russ. l (ł, лъ), dem niederländ. l nach Vocalen, wie in wel, helpen und ähnlich klingenden Lauten. In der Auffassung dieses Lautes scheint aber noch keine Uebereinstimmung zu bestehen. Nach Bell und Sweet (welche den Laut als back-divided bezeichnen) muss ein ‘centraler Verschluss’ mit der ganzen Zungenwurzel ausgeführt werden, wobei die Zunge stark zurückzuziehen ist. Die Luft entweicht zwischen den Seiten der Zungenwurzel und den hintern Backenwänden (Sweet S. 44). Storm gibt dagegen (² S.65) an, dass die hintere Zunge gehoben und der ganze hintere Mundcanal verengt (also nicht gespalten) werde, und dass hierdurch der velare Klangcharakter entstehe; diese Articulation erkläre auch die

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/143&oldid=- (Version vom 31.5.2022)