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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

118 302. Die Liquidae: 1, b. Alveolare r.


Verengung der Ausflussöffnung stattfindet. Reibungsgeräusche brauchen dabei nicht erzeugt zu werden. Man kann daher auch die gerollten Alveolar-r in den meisten Fällen noch zu den reinen Sonoren rechnen. Die Bildung von Reibungsgeräuschen hängt zum guten Theile von der Grösse der Ausflussöffnung ab. So lange, wie beim stark gerollten deutschen Bühnen-r, nicht nur der vordere Saum der Zunge, sondern auch ein nicht unbeträchtlicher Theil der Seitenränder mitschwingt, stehn die Geräusche hinter der Stimme durchaus zurück. Erst dann, wenn die Seitenränder der Vorderzunge bis fast ganz nach vorn hin an die Zähne angepresst werden, so dass nur der vorderste Theil des Zungensaums in einer sehr verkleinerten Enge hinund herschwingen kann, bekommen die Reibungsgeräusche einen deutlicheren s- oder sch-ähnlichen Klang, namentlich beim Flüstern (so z. B. in dem vordern armenischen ). Je stärker der Exspirationsdruck und je kleiner die Oeffnung, um so deutlicher werden sie; ja es kann sich schliesslich an das r ein vollständiges stimmhaftes sch anschliessen (wie im czech. ř, aber poln. rz ist schon reines ž geworden). So entstehen spirantische gerollte Alveolar-r. Auch stimmlose gerollte Alveolar-r kommen oft vor, namentlich nach stimmlosen Ge- räuschlauten; als selbständige Consonanten auch z. B. im isl. hr (Hoffory, Kuhn’s Zeitschr. XXIII, 533) etc., als Sonanten oft in der Aussprache der Bewohner der baltischen Provinzen in Wörtern wie Vater, Mutter, Messer etc. Ob das stimmlose r ein blosses Flattergeräusch ist, oder mehr sibilantischen Charakter annimmt, hängt dabei wieder von der speciellen Form der Articulation ab.

302. Das ungerollte Alveolar-r ist im Englischen häufig; es ist die normale Aussprache des anlautenden r im Englischen, wie jetzt wohl alle Phonetiker annehmen. Gelegentlich kommt es in Nordwestdeutschland vor (ich habe es von Ostfriesländern gehört). Man kann dieses r mit ziemlicher Intensität und lange anhaltend hervorbringen, ohne dass es deswegen zu einem gerollten wird. Es scheint, dass bei ihm die vorderen Partien der Zunge massiger geformt sind, also weniger leicht in jene Flatterbewegung versetzt werden können. Vielleicht liegt aber auch der Unterschied mit darin, dass die Oeffnung eine grössere ist als beim gerollten r. Vermuthlich hängt das dann weiterhin damit zusammen, dass die Zungenspitze beim gerollten r stärker gespannt, beim ungerollten aber schlaffer ist, sodass also hier der Gegensatz von gerolltem und

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/138&oldid=- (Version vom 30.5.2022)