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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

114 288—291. Die Vocale: Schlussbemerkungen.


288. Hiernach ist es unmöglich, ein Vocalsystem aufzustellen, das alle wirklichen und möglichen Vocalunterschiede enthielte. Ein solches System entspricht ausserdem nicht einmal den praktischen Bedürfnissen. Wir brauchen nicht zu wissen, wie viel Vocalnüancen es überhaupt gibt, sondern in welcher Weise das Vocalsystem einer jeden einheitlichen Sprachgenossenschaft zusammengesetzt ist (d. h. wie viele Vocale diese unterscheidet und wie dieselben zu einander liegen), und wie dieses System sich zu andern ebensolchen Systemen verhält.

289. Zur Veranschaulichung dieser Verhältnisse dient ein mit Rücksicht auf die wirklich innerhalb einzelner Sprachgenossenschaften vorkommenden Unterschiede entworfenes Normalzeichensystem. Die Abweichungen der einzelnen Mundarten von dieser Articulationsweise sind genau anzugeben, und eventuell durch Hülfszeichen zu bezeichnen.

290. Hierbei kommt es wiederum nicht sowohl auf das Verhältniss des einzelnen Lautes zum einzelnen Laute an, als auf das Verhältniss der Systeme. Man unterlasse also nie zu untersuchen, ob sich die Abweichungen der Einzelvocale zweier oder mehrerer Systeme nicht auf ein gemeinsames, die Stellung der Systeme ohne Weiteres charakterisirendes Princip zurückführen lassen.

291. Solche Principien sind beispielsweise die stärkere oder geringere Spannung der articulirenden Weichtheile (252 ff.) und deren Folgeerscheinungen, die stärkere oder geringere Betheiligung der Lippen (233 u. ö.), verschiedene Stufen der Nasalirung (278) u. dgl. Ferner gehört hierher namentlich auch eine durchgehends bei allen Vocalen des Systems abweichende Lagerung der Zunge, die von Differenzen in der Ruhelage der Organe herrührt und die man jetzt meist mit F. Franke als die specifische Articulationsbasis der betreffenden Idiome zu bezeichnen pflegt (früher hatte ich den Namen "Operationsbasis’ vorgeschlagen). Versuche ich als Mitteldeutscher z. B. eine prägnant norddeutsche Mundart wie etwa die holsteinische zu sprechen, so muss ein für allemal die Zunge etwas zurückgezogen und verbreitert werden; hat man diese Basis einmal gefunden und versteht man sie beim Wechsel verschiedener Laute festzuhalten, so folgen die charakteristischen Lautnüancen der Mundart alle von selbst. Füge ich zu dieser Articulationsweise noch die Neigung der Zunge zu supradentaler Articulation (156) bei passiver Lippenlage, so gewinne ich die

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/134&oldid=- (Version vom 28.5.2022)