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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

285—287. Die Vocale: Schlussbemerkungen. 113


Schlussbemerkungen.

285. Die ältere Grammatik, welche überhaupt mehr von den geschriebenen Lautzeichen als von den gesprochenen Lauten auszugehen pflegte, hatte sich im Anschluss an das consequent entwickelte Zeichensystem der alten Sprachen die Auffassung zu eigen gemacht, dass es nur eine beschränkte Anzahl von Vocalen gäbe, deren Unterschiede durch das traditionelle Zeichenmaterial hinlänglich bezeichnet wären. Zwar lehrte die Beobachtung, dass fast überall mehr Verschiedenheiten existirten als durch das Zeichensystem wiedergegeben waren. Allein, da man einmal daran gewöhnt war, nur die innerhalb des engsten Gesichtskreises als ‘gebildet” bezeichnete Aussprache der Vocale (wie überhaupt aller Sprachlaute) als massgebend zu betrachten und alle Abweichungen davon als ‘dialektische Rohheiten’ oder ‘Provincialismen’ zu brandmarken, übertrug ein jeder ohne Weiteres die ihm geläufige Aussprache seiner Lautzeichen auf die Lautzeichen anderer Idiome, unbekümmert, ob er damit den eigenthümlichen Charakter derselben verwischte oder nicht. Dass bei einem solchen Verfahren von einem wirklichen Verständniss irgend eines Lautsystems keine Rede sein kann, ist ohne Weiteres klar. Dem gegenüber ist folgendes festzuhalten.

286. Da die Sprache nicht bloss in den Kreisen der ‘Gebildeten’, noch weniger auf dem Papier sich bildet und fortentwickelt, vielmehr im Munde des Volkes ihre eigentliche Entwicklungsstätte hat, so ist für die Sprach- und Lautgeschichte (die doch nicht nur Schulzwecken dienen soll) ein jeder Unterschied zwischen einer ‘Sprache der Gebildeten’ und den ‘Dialekten’ ein für allemal aufzuheben. Eine jede factisch bestehende Mundart, und wäre sie auch auf das allerengste Gebiet eingeschränkt, ist auf diesem Felde den andern vollkommen gleichberechtigt und vollkommen gleich wichtig. Nur stehen die Mundarten der Gebildeten darin hinter denen der Ungebildeten zurück, dass sie kaum jemals eine ungehinderte und consequente Entwicklung aufweisen, sondern meist willkürlichen Eingriffen von Seiten der Schule und des abschleifenden und nivellirenden Verkehrslebens ausgesetzt sind.

287. Es gibt nicht bloss eine kleine Anzahl absolut gültiger Vocale, sondern eine für den Einzelnen unübersehbare Reihe von solchen, die durch unmerkbare und ganz continuirliche Uebergänge unter einander verbunden sind.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/133&oldid=- (Version vom 28.5.2022)