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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

108 276. Die Vocale: 3. Bell’s System.


Vocale keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit haben kann, weil das Verhältniss von Rundung und Zungenarticulation nicht überall das gleiche ist. Das deutsche ü findet so, um bei diesem Beispiel stehen zu bleiben, in der Tabelle keinen Platz. An die Stelle des y gehört es nicht, weil es andere Zungenstellung hat, und die ihm nach der Zungenstellung gebührende Stellung ist bereits durch das ø der Tabelle occupirt, und wollte man es dahın versetzen, so fiele wiederum das ø aus. Unanfechtbar ist dagegen, wie mir scheint, das Anordnungsprincip für die Vocale ohne active Lippenthätigkeit. An die Stelle der einen Tabelle für "gerundete’ Vocale müssen dagegen ohne Zweifel Specialtabellen treten, die sich nicht nur auf die gerundeten Vocale, sondern eventuell auch auf die Vocale mit spaltförmiger Erweiterung der Lippen zu erstrecken haben (soweit man die letztere nicht etwa durch Hülfszeichen hervorheben will, die man an den Zeichen für die Vocale ohne Lippenmodification anbringt. Für die Anordnung der Vocale in diesen Specialtabellen muss natürlich wieder die Zungenstellung massgebend sein. So würden z.B. die ü und ö des Französischen, Dänischen und Deutschen in den Specialtabellen in folgender Ordnung einzutragen sein:

franz. dän. deutsch
ü
ö ü
ö

Zu jeder Specialtabelle würde dann ein besonderer Vermerk über Grad und Form der Lippenmodification hinzuzufügen sein. Mit diesen Modificationen wird das System allen billigerweise zu machenden Anforderungen entsprechen, insofern es eine objecetiv richtige und praktisch durchführbare Olassification der (lieder jedes Einzelvocalismus gestattet.

276. Gegen diesen Satz darf nicht der Einwand erhoben werden (der thatsächlich erhoben worden ist), dass Niemand im Stande sei, 36 und mehr Vocale durch das blosse Muskelgefühl aus einander zu halten. Das ist auch niemals so verlangt worden. Für die Einübung jeder einzelnen Stellung sind natürlich die Oontrolmittel, welche das Gehör bez. die akustische Bestimmung der Eigentöne etc. bieten, hier ebenso anwendbar wie bei jedem andern System, und damit fällt jener Einwand zu Boden. Wie weit der Einzelne in der Sicherheit der

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/128&oldid=- (Version vom 28.5.2022)