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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

274. 275. Die Vocale: 3. Bell’s System. 107


274. Am wenigsten leicht verständlich für den Deutschen sind die Articulationen der gemischten Vocale An der Spitze steht das gespannte russ. jery (ï¹), aus diesem entsteht durch Senkung der Zunge das deutsche ö-ähnliche unbetonte e in Gabe u.s.w. (vgl. 249; doch ist die Spannung dieses Lautes fast mehr als fraglich, vgl. auch Storm² S. 137), aus diesem durch abermalige Senkung das æ̇¹ in engl. bird. Den ungespannten Laut, welcher dem russ. jery entspricht, findet Sweet oft gebraucht in pretty und just und einigen andern englischen Wörtern; nach Bell ist der zweite Vocal in Worten wie fishes dieses ï²; mir scheint sehr oft unbetontes langes u im Englischen zu jï² zu werden (wenn der Vocal nicht ganz verdrängt wird), z. B. in regular, natural, betontes u auch oft in curious (gesprochen k(j)ï²ri̯ė̥s oder k(j)ï²ri̯ï²s). Die beiden u̇' kommen nach Sweet oft in nachlässiger Aussprache für engl. oo vor, z. B. in tu̇¹w oder tu̇²w für two; ȯ¹ in der sogenannten ‘affectirten’ Aussprache des engl. no u. s. w., ɔ̇¹ ist nach Ellis das lange österreichische a in ‘Euer Gnaden’, ɔ̇² nach Bell die Cockney-Aussprache des a in ask u.s. w. —

275. Dies System bezeichnet, wie man sieht, einen Fortschritt insbesondere in zwei Richtungen. Einmal weil es sich von der alten irrigen Vorstellung von dem Parallelismus zwischen Klangreihen und Articulationsreihen emancipirt hat, sodann weil es die constituirenden Zungenstellungen und -spannungen von den modificirenden Lippenarticulationen nach Gebühr trennt. Gleichwohl darf auch dies System noch nicht für abgeschlossen gelten. Abgesehen davon, dass im Einzelnen, wie gelegentlich des deutschen ü und ö bemerkt wurde, den Bearbeitern desselben falsche Analysen der Stellung dieses oder jenes Vocals untergelaufen sein können (was aber natürlich kein Argument gegen die Richtigkeit der Eintheilungsprincipien ist), so sind einige der angeführten Kriterien z. Th. noch etwas zweifelhafter Natur und erfordern noch genauere Untersuchung. Namentlich gilt dies wohl auch heute noch von der Unterscheidung der gespannten und ungespannten Vocale, insbesondere auch, wenn man zugleich das in 254 Erörterte mit beizieht. Der Unterschied in der Spannung der articulirenden Organtheile ist zweifellos vorhanden, aber ob er das einzige bedingende Moment für die Scheidung der beiden Gruppen ist, muss einstweilen noch dahingestellt bleiben (s. hierzu besonders die Ausführungen von Storm² S. 136 ff.). Ferner liegt es auf der Hand, dass die Tabelle über den Bestand der gerundeten

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/127&oldid=- (Version vom 28.5.2022)