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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

271. 272. Die Vocale: 3. Bell’s System. 105


271. Zur Veranschaulichung der entsprechenden gerundeten Vocale ist der deutsche Vocalismus nicht geeignet. Es wird zwar meist (auch noch von Sweet und Storm) angenommen, dass dem i¹ als Rundungsvocal (y¹, high-front-narrow-round) das deutsche ü in über, Sühne entspreche, dem e¹ als ø¹ das ‘geschlossene’ ö in Söhne (mid-front-narrow-round), ferner dem i² als y² das ‘offene’ ü in Sünde, schützen (high-front-wide-round), und dem e² als ø² das ‘offene’ ö in Götter, Stöcke (mid-front-wide-round), doch beruht diese Annahme auf einer falschen Analyse der Stellungen dieser Laute (weswegen die betreffenden Beispiele in der Tabelle eingeklammert sind). Abgesehen von individuellen Schwankungen hat das ‘geschlossene’ ü deutscher Wörter die Zungenstellung des ‘geschlossenen’ e, das ‘offene’ ü die eines etwas ‘offeneren’ e; das ‘geschlossene’ ö die des ä, das ‘offene’ ö etwa die des engl. a in man, hat, d.h. in den deutschen ü, ö steht die Zunge je um eine Stufe tiefer als in den i, e (dafür ist die Rundung sehr stark: beim ü¹ werden oft die Lippen an die Zähne gepresst, auch wo sie beim u vorgestülpt werden). Das deutsche ü ist also sozusagen nicht sowohl als ‘i/ü’, als vielmehr als ‘e/ü’ zu charakterisiren, wenn man die beiden Factoren der Zungenstellung und des Gesammtklangs bezeichnen will. Wirkliche i/ü sprechen wir dagegen (mindestens oft) in Fremdwörtern, zumal für griechisches y, also z.B. in Lyrik, Physik, Myrte u.dgl. Andere Sprachen, wie das Französische und die skandinavischen Sprachen, besitzen dagegen ganz allgemein ü- und ö-Laute, welche den ungerundeten Vordervocalen i, e, æ fast ganz genau entsprechen. Das u von franz. lune, das y von dän. Lys hat wirklich die Zungenstellung des i¹, das franz. eu von peu die des e¹; durch nochmalige Senkung der Vorderzunge gelangt man von da zu dem breiten schwed. und ostnorw. ö in för (æ¹, low-front-narrow-round), welches auch in dem franz. nasalirten un die vocalische Grundlage bildet. Ebenso ist das dän. y in Zyst ein der Stellung in der Tabelle entsprechendes y² (high-front-wide-round), das franz. eu in peuple, gedehnt in peur, beurre ein ebensolches ø² (mid-front-wide-round) u. s. w.

272. Genau parallel der Reihe der Palatalvocale läuft, soweit überhaupt vertreten, auch im Deutschen die Reihe der gerundeten Velarvocale Wir gelangen durch einfache Zungensenkung vom deutschen gespannten langenu in du (u¹, high-back-narrow-round) zu langem gespanntem o in so (o¹, mid-back-narrow-round) und zum gespannten englischen aw in saw

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/125&oldid=- (Version vom 28.5.2022)