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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

262. 263. Die Vocale: 3. Bell’s System. 101


Lippenöffnung und nach ihrer Form zu unterscheiden. Was die ersteren anlangt, so unterscheidet Sweet drei natürliche Hauptabstufungen, welche häufig den Abstufungen der Zungenhöhe entsprechen, indem gerundete hohe Vocale sehr gewöhnlich die engste, niedrige Vocale die weiteste, mittlere Vocale eine mittlere Lippenöffnung haben. Man vergleiche z. B. die Vocale in engl. who, no, saw, deutsch du, so, dialektisch . Bei dem u sind die Lippen bis auf eine ganz enge Oeffnung zusammengezogen, bei o ist die Oeffnung weiter und breiter, und beim å sind nur die Mundwinkel etwas zusammengezogen. Doch ist dieser Parallelismus zwischen Zungenhöhe und Rundungsgrad meist nur ein habitueller, und nur insofern durch natürliche Verhältnisse geboten, als Vocale mit niedriger Zungenstellung und dem entsprechender stärkerer Senkung des Unterkiefers kaum eine sehr starke Verengung der Lippenöffnung gestatten. Sonst kann sich auch eine Rundung ersten Grades, wie wir sie etwa bei dem ‘geschlossenen’ (d.h. hier ‘gespannten’) u haben, auch mit einer niedrigeren Zungenstellung verbinden, u.s.w. Als Beispiel kann das deutsche ‘geschlossene’ ü wie in über dienen; dasselbe hat die starke Rundung des u, aber die Zungenstellung des ‘geschlossenen’ e, welches ein Vocal von mittlerer Zungenhöhe ist.

262. Was sodann die Formunterschiedein der Rundung betrifft, so unterscheide man im Einzelnen, ob die Rundung bloss durch Verticalbewegung der Lippen gegeneinander erzeugt wird (verticale Rundung), oder durch Einziehung der Mundwinkel (horizontale Rundung), oder durch beides zugleich (gemischte Rundung); ferner ob die Lippen ihren natürlichen Abstand von den Zähnen behalten oder an diese stärker angepresst oder aber vorgestülpt und dadurch von den Zähnen abgehoben werden (42 ff.).

263. Sweet definirt Rundung als ‘a contraction of the mouth cavity by lateral compression of the cheek passage and narrowing of the lip aperture’. Er unterscheidet daher mit Bell neben der Lippenrundung auch noch eine innere oder Wangenrundung (inner rounding, cheekrounding, cheek-narrowing), und bemerkt, dass die Rundung immer auf den Theil des Mundes concentrirt sei, wo der betreffende Vocal gebildet werde (vgl. auch Primer S.15f.). Bei der Rundung von vorderen Vocalen, wie des franz. u, sei die Wangencompression hauptsächlich auf die Mundwinkel und die unmittelbar daran grenzenden Partien der Wangen beschränkt, während bei hinteren Vocalen, wie dem (deutschen) u, die Hauptcompression in den hinteren Theilen der Wangen stattfinde. Wenn hintere Vocale bloss mit Lippenverengung, ohne gleichzeitige innere Rundung ausgesprochen werden, erhält man nach ihm nicht die entsprechenden

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/121&oldid=- (Version vom 27.5.2022)