Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/120

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

100 258—261. Die Vocale: 3. Bell’s System.


hervorgerufenen Verschiedenheiten der Vocalbildung nicht ganz ausschliesst. Diese Gefahr vermeidet man bei consequenter Anwendung der Namen ‘gespannt’ und ‘ungespannt’, welche die entsprechende Besonderheit der Articulation ganz unmissverständlich zum Ausdruck bringen.

258. Man hüte sich auch davor, die Begriffe ‘gespannt’ (oder ‘eng’) und ‘ungespannt’ (oder ‘weit‘) mit denen zu verwechseln, welche die althergebrachten Ausdrücke ‘geschlossen’ und ‘offen’ bezeichnen sollen. Diese letzteren wollen nur aussagen, dass ein Vocal geringere oder grössere Mundweite habe als ein anderer, aber ohne alle Rücksicht auf die Verschiedenheit der Articulationsweise, welche die Differenzen der Mundweite im einzelnen Fall hervorruft, speciell also ohne Rücksicht darauf ob die specifische Mundweite auf grösserer oder geringerer Erhebung (251) oder auf grösserer oder geringerer Spannung der Zunge beruht, oder auf einem Gemisch von beiden. Ein Vocal kann also ‘offener’ sein als ein anderer, weil er geringere Zungenhöhe hat, oder aber weil er geringere Spannung hat, und umgekehrt bei den ‘geschlossenen’ Vocalen. Im einzelnen Fall kann sich also wohl einmal ‘gespannt’ mit ‘geschlossen’ decken, aber es muss nicht so sein. So nennen wir z. B. das kurze deutsche ĭ ‘offen’ im Gegensatz zum ‘geschlossenen’ langen ī (oder ‘offener als das lange ī’), und das deckt sich hier auch wirklich mit dem Unterschied von ‘ungespannt’ und ‘gespannt’. Wir sagen aber z. B. auch das engl. ai, e in Wörtern wie air, there sei ‘offener’ als das deutsche lange ī in See u. dgl.: hier sind aber beide Vocale gespannt, aber sie haben verschiedene Zungenhöhe (das deutsche ē als mittlerer, der englische Laut als tiefer Vocal). Nicht minder nennen wir auch z. B. das engl. a in man, hat ‘offener’ als das deutsche e, ä in helfen, Mächte, da doch beide trotz verschiedener Zungenhöhe in gleicher Weise ungespannt sind. Da wo die Grammatik mit ‘geschlossenen’ oder ‘geschlosseneren’ und ‘offenen’ oder 'offeneren’ Vocalen operirt, muss also die Phonetik jedesmal erst des Genaueren constatiren, was mit dem mehrdeutigen Ausdruck gemeint ist.

259. Lippenarticulation der Vocale. Zu jederZungenstellung und -spannung kann eventuell eine besondere, selbständige Articulation der Lippen hinzutreten. Diese Articulationen bestehen nach dem, was in 42 erörtert worden ist, entweder in einer Rundung (rounding, Labialisirung), die mit oder ohne Vorstülpung der Lippen ausgeführt werden kann, oder in einer spaltförmigen Ausdehnung der Lippenöffnung.

260. Zu beachten ist dabei, dass nach 254 Vocale mit gespannter Zunge die Spannung bis zu einem gewissen Grade auch auf die Lippen ausdehnen, sofern diese bei der Articulation activ betheiligt sind. Man beachte etwa den Spannungsunterschied der Lippen bei deutschem langem (‘gespanntem’) ū und kurzem (‘ungespanntem‘’) ŭ oder entsprechendem ō: ŏ u. dgl. Je grösser die Activität der Lippen, um so deutlicher ist auch der Spannungsunterschied, d. h. er ist deutlicher bei stark als bei schwach gerundeten Vocalen (vgl. 261), u. dgl.

261. Rundung. Innerhalb dieser sind im Einzelnen wieder Abstufungen nach dem Grade der Verengung der

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/120&oldid=- (Version vom 27.5.2022)