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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

256. 257. Die Vocale: 3. Bell’s System. 99


zwischen gespannten und ungespannten Vocalen zu unterscheiden. Doch ist dabei darauf zu achten, dass der Unterschied der Spannungs- und Entspannungsgrade in den einzelnen Sprachen sehr verschieden sein kann, dass es sich also abermals um einen relativen Gegensatz handelt. Auch die Vertheilung der beiden Arten von Vocalen kann sehr verschieden sein. Die Beobachtung wird da wesentlich erleichtert, wo sich der Gegensatz zwischen Spannung und Nichtspannung mit einem andern, z. B. quantitativen, Gegensatz verbindet. Dies ist z. B. im Deutschen und Englischen der Fall, indem hier die langen Vocale wie ī, ē, ū, ō meist gespannt, die kurzen wie ĭ, ĕ, ŭ, ŏ meist ungespannt sind.

256. Die ungespannten Vocale klingen tiefer und dumpfer, weniger ‘metallisch’ als die gespannten. Dies beruht einerseits auf der Verschiedenheit der Resonanz von Lufträumen mit schlaffen und elastischen Wänden (245), andrerseits auf der Verschiedenheit der Stimmbänderspannung (254), endlich spielen auch Verschiedenheiten der Zungenform mit ein. Doch sind diese letzteren, wenn sie natürlich auch eine Verschiedenheit der Gesammtstellung der Zunge involviren, als secundär zu bezeichnen, da sie durchaus von Spannung und Nichtspannung der Zunge abhängen. Wie jeder angespannte Muskel wölbt sich nämlich auch die gespannte Zunge in dem articulirenden Theil stärker convex nach oben, als wenn sie entspannt wird und damit zusammensinkt. Die stärker gespannte Zunge tritt daher auch bei gleicher Höhenstellung (251) dem Munddach näher als die ungespannte, daher ist denn auch die Mundweite der ungespannten Vocale etwas grösser als die der entsprechenden gespannten, aber der Gegensatz ist wesentlich andrer Art als etwa der zwischen hohen und mittleren oder mittleren und tiefen Vocalen. Man vergleiche etwa den Gegensatz zwischen ī und ē, ĭ und ĕ einerseits, und den zwischen ī und ĭ, ē und ĕ andrerseits: der erstere beruht auf der Verschiedenheit der Zungenhöhe, der letztere auf der Spannungsverschiedenheit der articulirenden Weichtheile.

257. Den hier geschilderten Gegensatz zwischen ‘gespannt’ und ‘ungespannt’ bezeichnete Bell mit den Namen primary und wide; dafür hat Sweet seinerseits narrow und wide eingeführt, was man dann abermals mit ‘eng’ und ‘weit’ übersetzt hat. Diese (auch noch in der 4. Auflage dieses Buches gebrauchte) Bezeichnungsweise ist an sich nicht unrichtig, da sie an die thatsächlich bestehenden Unterschiede der Mundweite (256) anknüpft, aber doch nicht ganz empfehlenswerth, insofern sie Verwechslungen mit den durch verschiedene Höhenstellungen der Zunge

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/119&oldid=- (Version vom 27.5.2022)