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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

98 252—255. Die Vocale: 3. Bell’s System.


kann man ausserdem noch gesenkte (lowered) und erhöhte (raised) unterscheiden, z. B. zwischen dem high-front-Vocal i und dem mid-front-Vocal e noch einen lowered high-front und einen {{lang|en|raised mid-front-Vocal einschieben. In der Praxis wird man aber auch hier meist mit einer einzigen Mittelstufe auskommen.

252. Spannung. Vocale wie beispielsweise deutsches oder englisches langes ī und ē sind, wie im Vorhergehenden ausgeführt ist, durch (primär, vgl. 255) verschiedene Zungenstellung oder Zungenlage charakterisirt. Man muss also, um vom ī zum ē zu gelangen, entweder den Kieferwinkel vergrössern (d. h. bei eventuell vollständig innerhalb des Kiefers fixirter Zunge den ganzen Unterkiefer senken) oder den articulirenden Vordertheil der Zunge innerhalb des Unterkiefers herabdrücken. Wesentlich anders ist aber der Mechanismus, wenn man z. B. vom deutschen oder englischen langen ī zum kurzen ĭ, von ē zu ĕ u. dgl. übergeht. Beim langen ī, ē fühlt man bei einiger Aufmerksamkeit leicht, wie die Zunge zumal in dem articulirenden Vordertheil straff angespannt ist; geht man dann zu ĭ, ĕ über, so wird sie schlaffer und sinkt gewissermassen in sich zusammen.

253. Man kann den Spannungsunterschied bei den vorderen Vocalen wie ī, ē: ĭ, ĕ auch von Aussen her leicht durch Betasten feststellen, indem man einen oder besser zwei Finger von unten her gegen die vorn zwischen den beiden Unterkieferknochen eingebetteten Weichtheile presst; bei ī, ē ist dann die ganze Unterwand stärker angespannt, bei ĭ', ĕ aber erschlafft sie. Bei den hintern Vocalen wie ū: ŭ oder ō: ŏ' muss man dagegen weiter rückwärts gelegene Theile betasten, etwa so dass man Daumen und Zeigefinger zu beiden Seiten des Kehlkopfs einsetzt und sie dann entsprechend in die Höhe schiebt.

254. Bei genauerem Aufmerken findet man übrigens leicht, dass der hier geschilderte Spannungsunterschied sich nicht auf die Zunge allein beschränkt, sondern in analoger Weise bei allen an der Lautbildung activ betheiligten Organen wiederkehrt, welche überhaupt verschiedene Spannungsgrade gestatten. Dies gilt bei der Vocalbildung einmal von den Lippen, bei deutlicher Rundung (261 ff.) oder spaltförmiger Erweiterung (264), sodann aber namentlich auch von den Stimmbändern. Beim Nachlassen der Mundspannung nimmt auch die Stimmbandspannung ab, und umgekehrt. Dies macht sich praktisch in einer entsprechenden ‘Verdumpfung’ bez. ‘Erhellung’ des betreffenden Vocalklangs bemerkbar (vgl. noch 256); insbesondere ist dabei charakteristisch, dass auch die Tonhöhen der ‘ungespannten’ Vocale (255) etwas tiefer liegen als die der jeweilen correspondirenden ‘gespannten Vocale’.

255. Solche Spannungsunterschiede ziehen sich nun durch das ganze Vocalsystem hindurch. Man hat daher auch überall

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/118&oldid=- (Version vom 27.5.2022)