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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

246. Die Vocale: 3. Bell’s System. 95


Ausserdem wird, was in keinem der älteren Systeme der Fall war, auf die verschiedenen Spannungsverhältnisse der articulirenden Weichtheile Rücksicht genommen, durch welche die Resonanzverhältnisse und demnach auch die Klangfarben der einzelnen Vocale sehr wesentlich mit bestimmt werden, insofern Resonanzräume mit gespannt-elastischen Wänden anders resoniren als solche mit schlaffen Wänden (vgl. Helmholtz, Tonempfindungen⁴ 185 f.).

246. Zungenlage. Die Zungenstellungen der Vocale sind besonders ausgezeichnet durch mehr oder minder starke dorsale (204) Erhebungen bestimmter Theile des Zungenrückens, welche zur Bildung einer mehr oder weniger ausgeprägten charakteristischen Enge zwischen Zunge und Munddach führen. Für jeden Vocal ist also zunächst festzustellen, wo diese charakteristische Enge liegt und wie gross dabei der Abstand zwischen Zunge und Munddach ist. Um hier systematisiren zu können, muss man vorerst lernen, die verschiedenen und zum Theil recht complicirten Bewegungen des Zungenkörpers, durch die man von der Stellung eines Vocals zu der eines andern gelangt, in ihre einfachsten Factoren zu zerlegen. Wie dies zu geschehen hat, können ein paar einfache Tastversuche zeigen, bei denen man einen Finger möglichst weit in den Mund einführt und auf die Zunge auflegt. Spricht man nun eine Vocalfolge wie iu oder ea, so findet man, dass sich jedesmal die Gesammtmasse der Zunge von vorn nach hinten bewegt, um zu der Stellung des zu zweit genannten Vocals zu kommen, und umgekehrt: legt man den Finger fest auf die Zunge, so folgt er einfach ihrem Zug nach hinten bez. dem Vorschieben nach vorn, legt man ihn lockerer auf, so gleitet die Zunge unter ihm fort. Anders bei einer Vocalfolge wie «—e oder „—a. Hier braucht keinerlei Verschiebung der Zungenmasse nach hinten (oder bei umgekehrter Folge nach vorn) einzutreten, wohl aber senkt sich der Zungenkörper, und zwar von ! zu e in seinem vordern, von u zu a in seinem hintern Theil, und entsprechend steigt er von e zu, von a zu u, u.s.w. Mit andern Worten, man gelangt von i zu u, von ezu a und umgekehrt durch Horizontalbewegungen, von i zu e, von u zu a und umgekehrt durch Verticalbewegungen der Zunge, und auf diese beiden Grundformen der Bewegung lassen sich auch alle anderen Bewegungsformen zurückführen, die man ausführen muss, um von einer Vocalstellung zu einer andern zu kommen. Man fühlt z. B. wie bei einer Folge wie ai die

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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/115&oldid=- (Version vom 27.5.2022)