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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

94 243.—245. Die Vocale: 3. Bell’s System.


aus denen Klangfarbe wie Eigenton resultiren, so kann die Antwort natürlich nur zu Gunsten der letzteren ausfallen. Für die Aufstellung eines Vocalsystems kann nur die Anordnung nach Articulationsverwandtschaft massgebend sein. Die Klangfarben und Eigentöne sind zwar schätzbare, ja unentbehrliche Hülfsmittel für die Controle der Einstellung im Einzelfall, aber auch nichts mehr.

3. Die Anordnung nach Articulationsreihen.

243. Das Verdienst, ein Vocalsystem eingeführt zu haben, welches das subjectire Moment der Abschätzung der Articulationsverwandtschaft nach der akustischen Aehnlichkeit ausschliesst, gebührt dem Schotten A. Melville Bell. Sein Vocalsystem baut sich ebenso ausschliesslich wie das System der übrigen Laute auf einer Analyse der Articulationsweise auf, ohne Rücksicht auf grössere oder geringere Klangverwandtschaft der einzelnen Vocale, und hierin liegt ein grosser principieller Fortschritt, den auch diejenigen nicht wegleugnen können, welche mit Vorliebe betonen, dass Bell bei der Durchführung des Systems im Einzelnen Fehler begangen hat (wie sie übrigens einem jeden Phonetiker ohne Ausnahme mit untergelaufen sind). Jedenfalls darf das System Bell’s nach den Verbesserungen, welche es durch Sweet und Storm erfahren hat, als das relativ vollkommenste aller bisher aufgestellten Vocalsysteme gelten. Natürlich soll mit dieser Anerkennung des Systems nicht gesagt sein, dass es nicht für weitere Durchbildung und Verbesserung im Einzelnen noch hinlänglich Raum böte.

244. Die Beschreibung des Systems gebe ich im Folgenden in möglichst engem Anschluss an die Darstellungen von Sweet, Handbook 8 ff., und Storm, Englische Philologie¹ 56 ff. (vgl. 1², 111 ff.), aus denen ich das System zuerst kennen gelernt habe. Später habe ich dann Gelegenheit gehabt, die einzelnen Aufstellungen mit Sweet mündlich durchzuprüfen.

245. In dem alten Vocaldreieck wie in der Vocallinie uai werden, wie gelegentlich schon bemerkt wurde, Vocale mit einfacher Zungenarticulation mit solchen zusammengeworfen, welche Zungen- und Lippenarticulation haben. Dem gegenüber hält Bell’s System die Articulationen der Zunge und der Lippen streng auseinander, und classificirt die Vocale zunächst nur nach den Stellungen der Zunge: beides mit Recht, da ja im Princip zu jeder beliebigen Zungenstellung jede beliebige Lippenstellung modificirend hinzutreten kann.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/114&oldid=- (Version vom 27.5.2022)