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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

242. Die Vocale: 2. Das Eigentonsystem. 93


Diese Vocale sind nach Klang, Eigenton und Articulation von den Vocalen der Vorderzunge, wie i, e ebenso geschieden, wie von denen der Hinterzunge, wie a, o, u. Was berechtigt also, wenn man ihre Existenz anerkennt (wie dies z. B. Trautmann thut), dieselben nur als Nebenvocale zu charakterisiren? Warum sind sie nicht eben so gut in das Normalsystem aufzunehmen wie die Vocale der Vorder- und Hinterzunge ?

242. Der Hauptfehler beider Systeme indessen liegt darin, dass sie auf irrthümlichen Voraussetzungen über das Verhältniss der Klangreihen bez. Eigentonreihen zu den Artieulationsreihen aufgebaut sind. Die Vertreter beider Systeme sind zwar der Meinung, dass ihre Reihen den Abstufungen der Articulationen parallel gehen, aber diese Meinung beruht ın vielen Fällen einfach auf einer leicht nachweisbaren Täuschung. Man betrachtet z. B. die Reihe a, ä, e, i (genauer etwa Winteler’s & e² e¹ i und die entsprechenden Vocale Trautmann’s) als eine gleichmässig abgestufte Klangreihe mit gleichmässig abgestuften Eigentönen (nach Trautmann steigen hier z. B. die Eigentöne von Vocal zu Vocal je um eine Terz). Aber man gelangt von a oder & zum ä (e²) durch Vorschiebung der Zunge in horizontaler Richtung, vom ä (e²) zum e¹ und i dagegen durch Hebung der Vorderzunge, also eine Articulationsbewegung anderer Richtung und anderer Art. Nach dem Verhältniss der Articulationsstellungen bez. der Bewegungen, durch die man von dem einen Laut zum andern gelangt, müsste man jene Vocale etwa so ordnen:

i
e
a ä,

aber nicht auf einer geraden Linie. Noch schlagender ist etwa der folgende Fall. Die Folge a, offenes o, geschlossenes o in engl. fast, fall, foal stellt ohne Zweifel eine gleichmässig abgestufte Klangreihe dar; auch die Eigentöne fallen in derselben Richtung, wie der Klang der Vocale dumpfer wird. Bei dem offenen o von fall steht aber die Hinterzunge tiefer als bei a und dem geschlossenen o. Der Klangfolge a, o², o¹ entspricht also hier die Articulationsfolge o², a, o¹, und so in vielen anderen Fällen. Fragt man sich aber, was für die systematische Anordnung der Vocale den Ausschlag geben muss, die Aehnlichkeit der Klangfarben bez. die damit zusammhängende Abstufung der Eigentöne, oder aber die Articulationsstellungen,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/113&oldid=- (Version vom 27.5.2022)