Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen | |
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238. 239. Die Vocale: 2. Das Eigentonsystem. | 91 |
238. Trautmann glaubt dieses System nicht als ein künstlich
harmonisch gemachtes, sondern, da die meisten seiner
Glieder die am häufigsten begegnenden Vocale seien, als ein
der Natur abgelauschtes bezeichnen zu können (S. 51). Dagegen
ist zunächst einzuwenden, dass es nicht angeht, nur den
Vocalismus einiger ausgewählter Cultursprachen zur Grundlage
eines Vocalsystems zu machen, das allgemeinen Zwecken dienen
soll, namentlich wenn der Vocalismus dieser Mustersprachen
ein so einförmiger ist, wie etwa der des Deutschen, Französischen
und Italienischen. Ein Vocalismus wie der des Englischen
lässt sich, um nur ein praktisches Beispiel anzuführen, nur vermittelst
so vieler Modificationen dieses Systems ausdrücken,
dass schliesslich von dem Grundsystem selbst nichts mehr übrig
bleibt. Es ist ferner zu bezweifeln, dass jene harmonischen
Reihen Trautmann’s wirklich die normalen Sprechvocale der
genannten Cultursprachen darstellen. Soweit ich nach den
Einzelangaben Trautmann’s (namentlich auch bezüglich der
wechselnden Grösse des Kieferwinkels, welche beim gewöhnlichen
Sprechen fast gar keine praktische Bedeutung hat (vgl.
40 f.), urtheilen kann, sind seine deutschen Normalvocale zum
srossen Theile Laute, die der gesprochenen Sprache, selbst in
ihrer reinsten, bühnenmässigen Form, fremd sind, und in dieser
Abstufung höchstens hie und da beim Gesang oder beim Vorund
Nachsprechen isolirter Einzelvocale gebildet werden.
Wenn man aber doch einmal für jede einzelne Sprache, auch
das Deutsche, noch besondere Angaben über die Höhe der
Eigentöne ihrer Vocale haben muss, so nützt die Erkenntniss
nicht viel, dass man sich auch eine Idealsprache denken kann,
in der die Eigentöne gewisser Vocale eine harmonische Reihe
bilden.
Dieselben Bedenken scheinen mir ebenso dem wieder anders gearteten Eigentonsystem Bremer’s entgegenzustehn.
239. Erwägt man ferner, dass die Eigentöne der Vocale stets von der jeweiligen Stellung des Ansatzrohrs abhängen, also etwas Secundäres sind, so gelangt man zu dem Resultate, dass sie höchstens als Controlmittel bei der Feststellung dieses oder jenes Vocals Verwendung finden, nicht aber zu einem wesentlichen Factor bei der Anordnung der Vocale gemacht werden können. Aber auch als Controlmittel sind sie nur mit Vorsicht zu gebrauchen, schon aus dem Grunde, weil ganz verschiedene Organstellungen doch denselben Eigenton besitzen können. Ferner ist die Bestimmung der Eigentöne an sich, wie
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/111&oldid=- (Version vom 27.5.2022)