Seite:Eduard Sievers - Grundzüge der Phonetik - 1901.djvu/109

Diese Seite wurde noch nicht korrekturgelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du auf dieser Seite.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

235. 236. Die Vocale: 2. Das Eigentonsystem. 89


führen, genau zu messen, und danach die Abstände der Einzellaute von einander zu bestimmen. So war es denn natürlich, dass man ein Mittel zu objectiverer Constatirung der Normalstellungen suchte, und man glaubt vielfach, ein solches Mittel in den Eigentönen der Vocale gefunden zu haben.

235. Der Unterschied der vocalischen Klangfarben beruht nach den Untersuchungen besonders von Grassmann, Donders und Helmholtz (die Hauptliteratur s. bei Grützner S. 174 ff.) auf der verschiedenen Einwirkung, welche das Ansatzrohr auf den Stimmklang ausübt, indem es kraft seiner Eigenschaft als hohler Resonanzraum einzelne Theiltöne der Stimme verstärkt, andere dämpft (vgl. 23). Kann nun auch die akustische Theorie der Vocalbildung noch nicht als durchaus gesichert und abgeschlossen gelten, so steht doch der Fundamentalsatz fest, dass jeder Articulationsform des Ansatzrohrs ein bestimmter Eigenton entspricht. Die Höhe dieses Tones kann man auf verschiedene Weise bestimmen, z. B. durch Percussion der Mundhöhle bei geschlossenem Kehlkopf, oder durch Beobachtung der Flüstergeräusche der Vocale, am sichersten endlich durch die Stimmgabelprobe. Hält man nämlich angeschlagene Stimmgabeln von verschiedener Höhe vor die Oeffnung des für einen bestimmten Vocal eingestellten Ansatzrohrs, so wird nur der Ton derjenigen Gabel durch das Mittönen der Luft im Mundraum eine deutliche Verstärkung erfahren, deren Eigenton dem des Mundraums gleich ist (22). Man kann hiernach nicht nur die Höhe des Eigentons jeder Vocalstellung ermitteln, sondern umgekehrt auch das Ansatzrohr mit Hülfe der Stimmgabelprobe jederzeit auf einen geforderten Eigenton einstellen.

236. Bestimmungen der Eigentöne von Vocalen sind in älterer'und neuerer Zeit vielfach vorgenommen worden. Einige Zusammenstellungen darüber s. z. B. bei Merkel, Laletik 8.47, Grützner S. 177 fe, Trautmann, Sprachlaute S. 27 ff., Vietor⁴ S. 27 ff., Bremer S. 170. Wenn die Resultate der einzelnen Beobachter stark von einander abweichen, so hat dies, wie Trautmann richtig hervorhebt, darin seinen Grund, dass ein Jeder zunächst die Eigentöne seiner eigenen Vocale bestimmte, während doch die Aussprache der Vocale bekanntlich in den einzelnen Sprachen und Mundarten, ja selbst bei einzelnen Individuen, sehr erheblich differirt. Dem gegenüber hat dann Trautmann den Satz aufgestellt, dass man, um zu einem brauchbaren System zu gelangen, nicht von beliebigen Einzelvocalismen ausgehen müsse, sondern von einem idealisirten

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/109&oldid=- (Version vom 27.5.2022)